Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Er besaß Tausende, aber er gab vor seinem Tode Anweisungen, dass wir den größten Teil von ihnen verbrennen sollten. Vielleicht war das Buch, von dem du sprichst, darunter. Doch wie kannst du all diese Dinge wissen? Hat er mit dir darüber gesprochen?«
»Ich war noch ein Kind zu jener Zeit, aber Ada Ta weiß noch alles. Er weiß viele Dinge, und er wird mit dir darüber sprechen, hab Vertrauen.«
»Das Buch, das mir Giovanni Pico anvertraute, behandelt die Essenz Gottes und seine Natur. Es erklärt, warum der Mensch sich am Anfang seiner Geschichte, als ihm noch niemand vorschrieb, wie und wen er anbeten solle, an die weibliche Natur wandte. Das weiß auch die Kirche, und das ist auch der wahre Grund, warum mein Freund sterben musste.«
»Siehst du, alles kehrt wie in einem Kreislauf zurück. Nahe bei Giovanni Pico war die Wahrheit, so klar wie das Wasser. Und du bist ihm am nächsten gewesen. Und aufgrund der Liebe und des Glaubens, die du für ihn hattest, wirst du damit belohnt, zu den Konklusionen zu gelangen, die er nicht mehr weitergeben konnte. Deshalb sind wir hier. Der Kreis schließt sich nun. So wie die Nabelschnur unabdingbar für das Leben ist, das Mutter und Kind verbindet, so existiert eine Verbindung, die die Große Mutter mit einem Sohn verbindet, der ihre Weisheit versteht.«
»Wie meinst du das? Nein, Gua Li, warte«, unterbrach sie Ferruccio. »Īsā war Jude, und trotzdem betete er die schöpferische Göttin an? Hat er seinen Gott also verleugnet?«
»Nicht verleugnet, Ferruccio. Es ist nur so, wie du sagtest: Er hat die Essenz anerkannt.«
Gabriel stand auf. Ihm gefielen Gua Lis Geschichten. Sie erinnerten ihn an eine alte Frau, die nächtens um ein improvisiertes Feuer auf dem Campo de’ Fiori Jungen wie ihn um sich versammelte und zu ihnen von Engeln und Teufeln sprach, von edlen Rittern und Huren. Diese Piazza war sein Zuhause. Dieser jungen Orientalin zuzuhören, wie sie über die Lehrzeit von Jesus bei diesen geheimnisvollen Mönchen sprach, hatten ihn wieder zu jenem begeisterten Jungen werden lassen, der er einst war, als er zu Füßen der Alten saß. Er hatte die Geschichte, wie Īsā die Kunst der Verlangsamung des Herzschlags lernte, zunächst nicht geglaubt, doch kurz darauf wiederholte Ada Ta dieses Experiment an sich selbst. Gabriel stand der Mund offen, als er mit dem Finger die Halsader des alten Mönchs abtastete und keinen Lebensschlag mehr spüren konnte. Maestro Leonardo hatte ihm daraufhin erklärt, dass der menschliche Körper wie ein großer Fluss sei und dass das Blut zusammen mit der Luft durch die einzelnen Fluss- und Nebenarme flösse; dass der Mensch in seiner Lunge über einen Luftvorrat verfüge und es daher lange aushalten könne, nicht zu atmen. Das brachte Gabriel nun wirklich zum Lachen, doch auch dieses Mal bewies Ada Ta ihm, dass alles der Wahrheit entsprach. Erst als Ada Ta sich weigerte, in der Luft zu schweben – so wie es Gua Li über Īsā und seine Gefährten erzählt hatte –, kamen Gabriel Zweifel. Er vertraute sich Leonardo an, der ihm wiederum freundlich erklärte, wie es doch möglich sein könne, dass ein menschlicher Körper schwebe.
»Schwere und Schweben sind gleich große Kräfte. Schwer ist der Körper, der sich zum Zentrum der Erde bewegt, da er den kürzesten Weg sucht. Schwebend ist der Körper, der, wenn er frei ist, dem Zentrum der Erde entflieht. Beide, die Schwere und das Schweben, sind Kinder der Bewegung, die wiederum ein Kind der Welle ist. Und wenn man fliegen wollte, so müsste man nur die erste Welle überwinden – jede weitere trüge einen von selbst.«
Gabriel dachte lange über diese Erklärungen nach, von denen er kein Wort verstand. Aber er wagte nicht weiterzufragen, als er Leonardos tiefe Überzeugung und seinen zufriedenen Gesichtsausdruck sah.
Gerne hätte er noch weiter mit ihnen gesprochen, aber Gua Li und Ferruccio sprachen nun über Gott, seine Mutter, den Geist der Seele und die Seele des Geistes. Und über Freiheit und Gerechtigkeit, die mit Sicherheit nicht von dieser Welt waren und ihn daher zu Tode langweilten. Gemäß ihrer Vereinbarung bezahlte Ferruccio ihn nach wie vor für das Nichtstun – denn außer Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen, indem er mit Mägden und Huren plauderte, hatte Gabriel keine Aufgaben. Obwohl er in dem Palazzo ein und aus gehen konnte wie er wollte, begann Gabriel unter diesem erzwungenen Nichtstun zu leiden. Seit Wochen hatte er keine Rauferei mehr gehabt oder mit
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