Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
ein Sodomit!«
»Meine Mutter war eine arabische Sklavin, die sich mit ihrem Herrn vereinte.« Leonardo ließ los. »Und ich, der ich nie darum gebeten hatte, auf diese Welt zu kommen, habe mir geschworen, diese Schande niemals bei meinen Nachkommen zu wiederholen.«
Gabriel wich vor dem stechenden und anklagenden Blick dieses stolzen und lüsternen Florentiners zurück, und unweigerlich überkam ihn die Angst, ihm zu verfallen. Schwer atmend und puterrot im Gesicht stürmte er die Treppe hinunter und an Ferruccio und Gua Li vorbei, die nach wie vor disputierten und ihn gar nicht beachteten.
Diese edlen Herren – sie waren doch alle gleich! Die Alte hatte in der Tat recht, wenn sie sagte, dass in den Palästen, in denen man aus silbernen Kelchen trank und von goldenen Tellern aß, den Hunden und den Armen die gleiche Behandlung zuteilwürde. Und wenn der Graf oder die Gräfin Fleisch haben wollten, ob gekocht oder roh, so gebe es kein Entrinnen. Es sei nicht falsch, die Reichen zu bestehlen, sagte die Alte, und man dürfe nicht auf die Priester hören, weil die mit ihnen unter einer Decke steckten. Und so tönte denn auch von den Kanzeln, dass nur derjenige, der sein Haupt beuge und in Bescheidenheit und Gehorsam litte und lebte, sich einen Platz im Himmel verdienen würde. Alles Lügen. Lügen mit dem einzigen Ziel, Aufruhr zu vermeiden. Auch das Paradies, sollte es tatsächlich existieren, konnte man Stück für Stück vom Papst höchstpersönlich erwerben wie einen Morgen Land; Hauptsache, man hatte Geld. Und derjenige, der die schlimmsten Sünden begangen hatte oder noch begehen würde, konnte sich den Sündenerlass erkaufen. Nein, wenn man arm geboren wurde, hatte man das Recht zu stehlen, zu betrügen und zu töten und das Leben zu genießen, bevor man ins ewige Nichts gestürzt oder, gar schlimmer noch, auf ewig versklavt würde. Auch Gua Li schien mittlerweile Teil dieser Bande von Predigern zu sein, und diesem kämpfenden Mönch hatte er sowieso noch nie über den Weg getraut.
Aus Gewohnheit und widerwillig lauschte Gabriel jedoch erneut den Worten dieser jungen Frau.
Eines Tages erschien der Dorfrichter bei Ong Pa und bat ihn um Hilfe in einem Streit zwischen einem Pächter und seinem Grundbesitzer, den er nicht zu schlichten wusste. Īsā wurde herbeigerufen, um dem Prozess beizuwohnen. Nach einer schlimmen Dürre war die Ernte sehr schlecht ausgefallen, und der Pächter wollte dem Grundbesitzer anstelle der wie üblich vereinbarten Hälfte nur ein Viertel geben. Wenn er die Hälfte abgäbe, behauptete er, würden er und seine Familie verhungern. Der Grundbesitzer war ein guter Mann, und anstatt die Angelegenheit mit Gewalt zu lösen, hatte er dem Pächter einen Gegenvorschlag gemacht: Er würde den ältesten Sohn des Pächters so lange als Diener in seinem Haus beschäftigen, bis sie ihre Schulden beglichen hätten. Aber der Pächter wehrte sich: Ohne die Hilfe seines Sohnes, sagte er, würde er nur die Hälfte der Felder bestellen können und im nächsten Jahr trotzdem verhungern. In diesem komplizierten Fall reichten also die Gesetze zur Rechtsprechung nicht aus, und daher hatte der Richter sich den Mönchen anvertraut, die mit ihrer Weisheit die Einzigen waren, um demjenigen, der im Recht war, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Mönche begannen also untereinander zu disputieren. Der ein oder andere gab tatsächlich dem Pächter recht, aber die Mehrheit war auf der Seite des Grundbesitzers, der ihrer Meinung nach schon allzu großzügig gewesen war.
»Und was denkst du, Īsā?«, fragte Ong Pa. »Du hast viele Götter kennengelernt, und die Lehren der Meister haben deinen Geist genährt. Wenn du zu entscheiden hättest, für wen würdest du dich aussprechen?«
Īsā bat erst antworten zu müssen, wenn der erste Sonnenstrahl die Spitze des Qomolangma erreicht haben würde. Nachdem er die Erlaubnis erhalten hatte, zog er sich in die Meditation zurück. In jener Nacht kehrte er nicht heim. Gaya befürchtete schon, ein Bär hätte ihren Ehemann getötet. Um Gewissheit zu erlangen, schickte Sayed eine Taube zu Ong Pa, der sofort eine Taube mit einem Stückchen Stoff, auf dem ein Kreuz gestickt war, zurücksandte. Da wussten Sayed und Gaya, dass es Īsā gut ging. Am nächsten Morgen fand sich Īsā pünktlich am Treffpunkt ein – wie alle anderen.
»Der Grundbesitzer ist vor dem Gesetz im Recht. Vor dem Gesetz, das von den Menschen als Spiegel der Gerechtigkeit gemacht wurde, die wiederum die
Weitere Kostenlose Bücher