Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Tochter des Verstandes und der Freiheit ist – den Grundbedingungen für das Leben. Darüber sind sich alle Mönche einig. Wenn man sich jedoch verbiegen muss, um den Gesetzen zu folgen, und wenn dabei das Leben nicht respektiert wird, sind alle Gesetze außer Kraft gesetzt. Wenn es also wahr ist, dass der Bauer sein Leben verlieren könnte, wenn er den Grundbesitzer bezahlte oder ihm seinen Sohn übergäbe, dann muss das Gesetz die Gerechtigkeit respektieren, und es ist richtig, dass er ihm das Geschuldete erst zahlt, wenn er nicht mehr Gefahr läuft, vor Hunger zu sterben. Derjenige, der reich ist, hat bereits mehr, als ihm zusteht, wenn es jemanden gibt, der zu wenig zum Leben hat.«
Ohne ein Wort des Grußes ging Gabriel. Nun brauchte er etwas zu trinken und vielleicht eine Magd mit einem großzügigen Gemüt. Gua Li hatte wahrlich recht, aber es waren nur Worte. Wenn der Grundbesitzer Īsā heimlich ein paar Scudi zugesteckt hätte, dessen war Gabriel sich sicher, dann hätte Īsā ihm recht gegeben, und der Bauer wäre gestorben. So einfach war das. So funktionierte es im wahren Leben.
30
Rom, 20. September 1497
Innerhalb eines Monats waren plötzlich Rittertrupps unter dem Kommando von Cesare Borgia in einigen Grafschaften aufgetaucht, die er offensichtlich bereits als die Seinigen betrachtete. In Ferentillo stellte sich der Gonfaloniere, der dem Grafen Fränzchen Cibo treu ergeben war, gegen ihn. Cesare durchbohrte ihn mit seinem Schwert, noch bevor der Gonfaloniere Zeit hatte, das seinige zu zücken, und die Garnison öffnete ihm freiwillig die Tore der Festung. Eilig leerte Cesare die Geldschränke und dachte mit Häme an den Moment, in dem die Späher des Grafen ihren Sold einfordern würden. Graf Cibo hatte es seit dem Tod seines Vaters Innozenz VIII. nicht mehr gewagt, in Rom aufzutauchen. Beide waren gleichaltrig und Papstsöhne, doch Frauengeschichten und der Neid auf Macht und Reichtum des Konkurrenten hatten sie immer getrennt. Schade, er wäre ein vortrefflicher Ministeriale gewesen.
Über die Pest wusste niemand Bescheid; allein der Bischof schien etwas Vertrauliches von einem Kapitän erfahren zu haben. Daraufhin hatte er sich umgehend zum Beten in die Santo-Stefano-Kirche zurückgezogen. Cesare war mit seinem Trupp am Precetto-Felsen vorbeigeritten und hatte gerade den Nera-Fluss überquert, als er bemerkte, wie das schwere Eisengitter der Festung wieder heruntergelassen wurde. Dann traf ihn ein Pfeil in den rechten Arm. Er schaute sich um, konnte aber im Gegenlicht nur den dunklen Umriss des Wehrturms erkennen. Wenn er endlich die Krone hätte, würde er die gesamte Garnison aufmarschieren lassen und einen nach dem anderen mit seiner Armbrust durchbohren. So lange, bis sie den Namen desjenigen herausrückten, der es gewagt hatte, den einzigen wahren Herrn dieser Ländereien hinterrücks anzugreifen. Wie sagte doch der große römische Caesar: Ich liebe den Verrat, aber ich hasse Verräter . Wenigstens entschädigten ihn die vollen Geldtruhen. Und die Entschädigung hatte er auch bitter nötig. Deshalb kam Cesare auch erst in dem nahe gelegenen Örtchen Norcia an, als er sie in angenehmer Gesellschaft geleert hatte.
Der päpstliche Präfekt empfing sie mit größter Dankbarkeit, fast als würden sie einen Segen überbringen. Ja, die Pestilenz griffe um sich, gab er zu, zweifellos. Ein Bader habe ihm Notiz gebracht, woraufhin er höchstpersönlich zum Haus der edlen Brancaleoni gegangen sei und wo er mit eigenen Augen die violetten Beulen und das aufgedunsene Fleisch der Toten gesehen habe. Die Gesichter der Kadaver hätten ihn über alle Maßen beeindruckt, berichtete der Präfekt weiter: In den starren Augen habe noch die Überraschung geschrieben gestanden, wie schnell der Tod seine Sense schwingen konnte. Ansonsten habe er nichts Außergewöhnliches bemerkt, außer dass sich die Pest dank der Gebete nicht weiter im Dorf verbreitet habe. Was aber ja nichts Besonderes war. Eigenartig sei nur, dass sie von einem Tag zum nächsten wie vom Erdboden verschwunden wäre. Erklären könne er sich diesen Umstand nur damit, dass die Brancaleonis ja nicht im Dorf lebten und deshalb Tage vergangen seien, bis zufällig ein Gemüsehändler auf die Toten gestoßen sei.
Cesare schrieb alles auf, ohne es zu verstehen. Daraufhin verbrachten sie drei Tage in der Sakristei, in der der heilige Benedikt auf die Welt gekommen war, und ergötzten sich an den verschiedensten Mahlzeiten: Sie aßen Reh,
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