Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Wirklichkeit kannten auch sie die Antwort nicht.
Er blickte in die Augen einer Frau – wohl einer Dienerin –, die auf ihrem Haupt einen Korb Fische balancierte. Er fragte sie, ob sie das Haus von Josef, dem Zimmermann, kenne; statt einer Antwort streckte sie ihm und Yuehan aber nur die Zunge heraus. Erstaunt schaute Jesus seinen Sohn an. Nicht nur er, stellte er fest, auch das Dorf hatte sich während seiner achtzehnjährigen Abwesenheit verändert. Es war offensichtlich, dass die Römer den Sklavenhandel eingeführt hatten und dass das Dorf wohlhabender geworden war. Die Häuser waren solider gebaut, hatten alle Holztüren, viele davon waren sogar mit einem Schloss versehen. Nur die Angst verschließt Türen, dachte Jesus wehmütig. Aus demselben Grund war wohl direkt neben dem Tempel eine Art Festung errichtet worden; eine römische Garnison, schätzte Jesus. Auch die ungebührliche Frau war Zeichen einer Veränderung. Wahrscheinlich war sie es gewohnt, Vorteile aus der Begegnung mit Fremden zu ziehen, egal ob Soldaten oder Händler.
Jesus war sich nicht sicher, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, doch dann erkannte er an einer Kreuzung die zweireihig gepflanzten Olivenbäume wieder.
»Bleib hinter mir, und sprich nicht. Ich glaube, wir sind zu Hause«, flüsterte Jesus seinem Sohn zu.
»In deinem Zuhause, Vater, nicht in meinem.«
Die Häuser waren nun von Mauern umgeben, auf denen sperrig und stachelig Aloepflanzen wuchsen. Sein Elternhaus lag etwas abseits. Der weiße Kalk der Hauswand war an einigen Stellen abgeblättert und ließ den darunterliegenden roten Ton wie einen gemalten Sonnenuntergang durchschimmern. Mit dem Rücken zur Straße gewandt saßen einige Männer hinter ein paar Wacholderbüschen. Jesus blieb stehen, pflückte ein paar Beeren und sog den öligen, intensiven Duft ein.
»Was willst du?«
Einer der Männer war aufgestanden. Er hatte einen dünnen, rötlichen Bart und kam direkt auf Jesus zugestampft. Wie er mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern vor Jesus stand, erkannte dieser sofort den lockigen Knaben aus seiner Kindheit wieder. Sie hatten so manchen Tag zusammen gespielt. Mit den anderen Knaben des Dorfes hatten sie Muscheln gegen Hauswände geworfen und die Treffer gezählt. Dieser hier war der jüngste gewesen, der lachte, wenn er gewann. Wenn er aber verlor, wurde er wütend, zog die Schultern hoch und ballte die Fäuste, bevor er in Tränen ausbrach. Deshalb hatte Jesus ihn immer gewinnen lassen.
»Judas?«
»Und wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?«
Er war es, sein Bruder! Jesus war versucht, ihn zu umarmen, hielt aber rechtzeitig inne. Judas hätte diese Geste nicht verstanden, und so bat Jesus ihn freundlich um ein Gespräch unter vier Augen. Erstaunt folgte ihm Judas bis zu einem nahen Zitronenbaum, der voller Früchte hing.
»Sieh mich genau an und dann sag mir, ob du mich wiedererkennst.«
Judas schaute Jesus prüfend ins Gesicht, runzelte angestrengt die Stirn, schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Ich bin dein Bruder, Judas. Jesus.«
»Was erlaubst du dir …«
Judas knirschte wutentbrannt mit den Zähnen und wollte ihm schon einen Faustschlag verpassen, als er sein Lächeln sah. Judas sah Jesus in die Augen – und erkannte den Ausdruck. Atemlos schlug er die Hände vor den Mund.
»Beim Barte Abrahams! Du … du bist es wirklich … ich … wir glaubten dich tot … stattdessen bist du zurückgekehrt …«
Sie umarmten sich stürmisch, lachten und weinten gleichzeitig, sahen einander an und umarmten sich von Neuem. Menschen, die vorbeikamen, lachten.
»Ich bin glücklich, Bruder.«
»Ich auch, mein Bruder.«
»Du musst mir alles erzählen. Wo bist du in all den Jahren gewesen?«
»Ich werde es dir erzählen. Doch erzähle du mir erst einmal von unserer Mutter.«
»Sie ist zu Hause und launenhafter als je zuvor. Warte aber einen Moment, bevor du gleich losstürmst – es wird besser sein, wenn ich sie auf euer Zusammentreffen vorbereite. Sie hat deinetwegen so viele Jahre geweint. Sie hat dir sogar ein Grab neben dem unseres Vaters errichten lassen.«
Jesus senkte den Kopf.
»Wann ist er …?«
»Es tut mir leid, aber es ist so viel Zeit vergangen, seitdem wir … und du … du konntest es nicht wissen.«
»Wann?«
»Es ist jetzt gut und gerne zehn Jahre her. Er ging auf den Markt von Sepphoris. Wir erwarteten ihn am nächsten Tag zurück, doch er ist nie wiedergekommen. Wir haben seinen Körper in Migdal am Ufer des
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