Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
bitter nötig hat. Und euch beide möchte ich daran erinnern, dass es zwar Tradition ist, dass ein Weib stets einer Meinung mit seinem Mann zu sein hat. Wenn sie aber immerzu und zu allem nur nickt, dann tut sie das nur, um ihn nicht zu demütigen. Und du, mein verlorener und auf wundersame Weise wiedergefundener Sohn – solltest du morgen meinen Fisch verweigern, dann wehe dir! Nun lass mich die Lampen anzünden, ich habe schon eine Sünde begangen, und dieses Gesetz lässt sich leicht einhalten.«
Maria lächelte, und in diesem Moment erkannte Jesus seine Mutter und Lehrerin wieder: Die grauen Haare und die Falten in ihrem Gesicht waren nur ein Zeichen, dass zwar ihr Körper älter wurde, nicht aber ihr Geist. Und Judas ähnelte ihr in allem.
Die beiden Brüder durchwachten gemeinsam die Nacht und erzählten einander ihr Leben. Sie lachten und weinten mit dem anderen, und schließlich schliefen sie gemeinsam ein, eng umschlungen wie in Kindheitstagen.
Am nächsten Tag wurde Jesus vor seinem Haus von einer Menschenmenge empfangen, die ihn über Stunden hinweg mit Fragen belagerten. Maria konnte die Menge nur zerstreuen, indem sie den Leuten versprach, dass ihr Sohn am nächsten Tag wieder für sie da sein würde.
Als endlich alle Schaulustigen verschwunden waren, setzten sie sich an den Tisch, und Jesus aß den Barsch mit Zwiebeln und das ungesäuerte Brot mit Oliven und Käse mit großem Appetit. Nach dem Essen bewachte Maria Yuehans tiefen Schlaf, und Jesus setzte sich nach draußen, in den lichten Schatten einer Palme.
Es war mild, und eine leichte Brise stieg vom See empor. Mit Judas und Jakob nippte er an einem Getränk aus Hibiskusblüten, das ihn an das goldene Wasser der getrockneten Blätter der Tu erinnerte, das zwar nicht so süß, dafür aber kräftiger war.
»Wie lange wirst du bei uns bleiben, Bruder?«
»Ich weiß es nicht, Judas«, antwortete Jesus und lächelte. »Wenn es euch aber zu lange erscheint, dann sagt es mir, und ich reise früher ab.«
»Ich kann es noch nicht glauben, dass du hier bist! Alle sprechen bereits von dir, und ich wette, dass die Nachricht von deiner Ankunft schon bis nach Jerusalem gelangt ist.«
»Ich glaube nicht, dass ich so wichtig bin.«
»Da irrst du aber gewaltig! Die Leute glaubten dich tot, und du bist zurückgekehrt. Und dann auch noch von der anderen Seite der Erde, so als kämst du aus dem Himmel oder von den Sternen. Sie sehen in dir Elija, der mit seinem feurigen Wagen zurückkommt.«
»Frevle nicht«, warf Jakob ein.
»Aber sie schwärmen nun einmal von dir!«, fuhr Judas fort. »Als du zu ihnen gesprochen hast, sahst du ihre Gesichter nicht – ich hingegen schon. Als du von deinem Leben mit den Mönchen und ihrer Weisheit erzähltest, konnte ich das Leuchten in deinen Augen sehen. Und als du dann über den Frieden sprachst, der in deinen Bergen herrscht, und über die Freiheit, da strahltest du übers ganze Gesicht. Ich schwöre dir, dass viele von denen, die dich heute hören wollten, bereit gewesen wären, dir sofort zu folgen: Du hättest sie nur zu fragen brauchen.«
»Jesus möchte eine Zeitlang bei uns bleiben, Judas, also lass ihn in Frieden.«
Jakob stand auf. Er wusste von den Ideen seines Bruders Judas und den Risiken, denen er sich damit aussetzen würde und fürchtete um Judas’ Leben. Die Römer und der Sanhedrin hatten einen Pakt geschlossen: Kein Jude würde in die Sklaverei geführt und nach Syrien oder Ägypten verschleppt – dafür würden sie jedoch ihren Zehnt abgeben und keine kritischen Fragen stellen.
»Verstehst du nicht, dass ein Mann wie er unserem Volk Hoffnung spenden könnte? Alle warten sie darauf – und dabei müssen sie nur noch wollen …«
Das war genau das, was Jakob befürchtet hatte. Er schüttelte den Kopf und ging davon.
»Mach dir keine Sorgen um ihn«, sagte Judas. »Er ist kein Angsthase, aber er sorgt sich um mich und unsere Mutter. Einmal haben sie mich zu dritt auf dem Markt von Tiberias angegriffen, und er hat sie ganz allein in die Flucht geschlagen. Trotzdem – denke an das, was ich dir gesagt habe: Über Frieden, Gerechtigkeit und Liebe zu sprechen heißt nicht, Politik zu machen oder zu revoltieren. Genauso wissen wir aber alle beide, dass es ohne Freiheit nur leere Worte sind.«
Einige Tage lang sprachen sie nicht mehr darüber, doch Jesus dachte lange über diese Worte seines Bruders nach. Ong Pa pflegte immer zu sagen, dass Worte von Taten begleitet werden müssten, um fruchtbar zu
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