Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Nase und brachte den Aufguss zu Ferruccio, damit er den aufsteigenden Dampf inhalierte. Zufrieden beobachtete sie, wie seine Brust sich regelmäßig hob und senkte. Nun würde er für einige Stunden friedlich weiterschlafen.
Zurück in der Küche, nahm sie getrockneten Fisch und Pilze, zerstieß sie in einem Mörser und arbeitete Mehl ein, das sie in einem Trog gefunden hatte. Körperliche Arbeit lenkt von unguten Gedanken ab , pflegte Ada Ta immer zu sagen, und er hatte recht.
In der Zwischenzeit hatte sich Osman zum Gebet zurückgezogen und kniete auf demselben Teppich, in dem sie Ferruccio während ihrer Flucht eingewickelt hatten. Es war die Stunde des ersten der fünf Gebete, doch er suchte vergeblich die Qibla , die Richtung gen Mekka. Gott würde auch seine Bemühungen zu schätzen wissen, tröstete er sich, und als er die heiligen Worte La Ilaha ill Allah aussprach , die versicherten, dass es keinen weiteren Gott als den Herrgott gebe, fragte er sich, ob er wirklich betete. Er war sich nicht mehr sicher, ob Gott ihm wirklich befohlen hatte zu töten. Doch vor allem war er sich nicht mehr sicher, wie dieser Gott wirklich war. Hatte er sich in ihm getäuscht?
Als er das Salât beendet hatte, trat er in die Küche und beobachtete nachdenklich Gua Li, die das Essen zubereitete. Ihre Geschichte von Jesus ließ ihn nicht mehr los. Als sie den Fladen zubereitet hatte, drehte sich die junge Frau zu ihm um und lächelte einladend. Beide setzten sich, damit sie mit ihrer Erzählung fortfahren konnte.
38
Sie erreichten Gamla, als die Sonne bereits tief am Horizont stand, deren Licht sich in den sanften Wellen des Sees Genezareth spiegelte. Um diese Tageszeit waren nur noch wenige Menschen unterwegs, und aus vielen Dächern der Häuser stieg dunkler Rauch auf.
»Sie sieht wie eine tote Stadt aus.«
»Es könnte Erew-Schabbat sein, Yuehan.«
Sein Sohn schaute ihn verständnislos an, als hätte er zu ihm in einer fremden Sprache gesprochen. Jesus lächelte.
»Du hast ja recht, das kannst du nicht wissen. Der Erew-Schabbat ist der Vorabend des siebten Tages, an dem jede Arbeit verboten ist. Auch das Kochen.«
»Und warum ist es verboten?«
»Es ist ein altes Gesetz unserer Vorväter. Es erinnert an den Tag, an dem sich der Gott Abrahams von den Anstrengungen der Schöpfung ausruhte.«
»Ein Gott kann nicht müde werden, sonst wäre er keiner.«
»Das sagte auch deine Großmutter. Ich hoffe, dass du sie kennenlernen wirst. Sie hat mir das Denken beigebracht.«
Als er an sie dachte, schloss Jesus die Augen und atmete tief ein: Der warme Hefeduft frisch gebackener Challa stieg ihm in die Nase und der unverkennbare Geruch gegrillter Barsche mit Zwiebeln. Diesen Fisch hatte er nie gemocht, und seine Mutter Maria hatte ihm immer gut zureden müssen, damit er ihn aß. Manchmal war er am Erew-Schabbat davongelaufen, damit er ihn nicht essen musste – wohl wissend, dass er früher oder später doch vor seinem Hunger kapitulieren würde. Und wenn er dann nach Hause zurückkam, fand er den Fisch lauwarm auf seinem Teller vor, und unter dem wohlwollenden Blick seiner Mutter aß er dann doch alles auf und lutschte sogar noch die Gräten ab.
Neben den Türen standen schon die Körbe voller Matzen, den dünnen, ungesäuerten Brotfladen, die am Schabbat mit Olivenöl, Oliven und Käse verzehrt würden. Der ein oder andere reiche Händler würde sich auch gefüllten Gänsehals dazu leisten können. Jesus seufzte. Diese Delikatesse hatte er nur einmal in seinem Leben gegessen, und es war unwahrscheinlich, dass er diesen Leckerbissen noch einmal genießen würde – es sei denn, seine Brüder hätten es zwischenzeitlich zu Reichtum gebracht.
Seit seiner Abreise hatte Jesus die Speisegesetze nicht mehr einhalten können, anfangs aus der Not heraus und dann aus Überzeugung. Für ihn war es nach längerem Nachdenken darüber nicht mehr logisch, dass er kein Fleisch von Huftieren oder Aal essen durfte, weil der Aal keine Flossen und Schuppen wie andere Fische hatte. Und weshalb durfte ein frommer Jude nur Kuhmilch, aber keine Eselsmilch trinken? Warum Leber, aber keine Nieren essen? Und weshalb musste er verschiedenes Geschirr für milchige und fleischige Speisen verwenden? Er erinnerte sich noch daran, wie er seinen Vater einmal vor dem Tempel gefragt hatte, warum die Bienen – aber nicht ihr Hönig – unrein seien und wie er unter den erzürnten Blicken der Schreiberlinge wegen seiner frevlerischen Frage getadelt wurde. In
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