Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
sein – so wie die Begegnung zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip für den Fortbestand des Lebens notwendig sei. Bei diesem Gedanken durchströmte die Erinnerung an Gaya seine Lenden und stieg durch seinen Leib bis in seine Kehle auf.
»Sie fehlt dir sehr, nicht wahr?«
Judas war stets an seiner Seite, auch während der stillen Spaziergänge am Abend, gleich nach der Arbeit in der Tischlerei.
»Ich hoffte, dass die Reise mir helfen würde, meine Traurigkeit zu verarbeiten, und gleichzeitig wünschte ich mir, euch wiederzufinden, euch – meine Familie. Ich habe Gaya tausendmal geliebt, nur sie allein, und meine Trauer um sie ist beinahe noch größer als die um Gua Pa. Wenn sich Yin und Yang vereinigen, habe ich gelernt, bilden sie eine antike und perfekte Einheit. Und diese Einheit ist das größte Geschenk für den Menschen. Wenn sie aber zerbricht, ist der Schmerz umso größer, denn die Liebe entspringt nicht nur den Lenden, sondern auch unserem Bewusstsein.«
»Du hast Glück gehabt, Jesus – denn du hast einen Sohn, der dein Ebenbild ist.«
»Und du? Liebst du deine Frau etwa nicht?«
»Du bist gegangen, weil du nicht wolltest, dass man dir eine Frau aufzwingt. Ich bin nicht gegangen … Nun, Noa ist eine gehorsame und gute Frau, und sie liebt ihre Kinder.« Judas lächelte. »Wobei ich von ganzem Herzen hoffe, dass sie auch wirklich meine Kinder sind, denn sie sehen dem Kommandanten der römischen Garnison sehr ähnlich.« Nun wurde er ernst. »Hilf mir, Bruder! Lass unser Leben nicht umsonst gewesen sein! Geh und sprich zu den Menschen. Ich werde mit dir kommen, und ich bin mir sicher, Jakob auch.«
»Ich habe den Samen, aber diese Felder liegen brach.«
»Nur für ein paar Monate. Dann kannst du wieder gehen, wenn du willst.«
»Es ist jungfräuliche Erde. Ich könnte es versuchen.«
»Sie werden dir zuhören, und wenn sie es nicht tun, was soll’s? Dann sind wir wenigstens trotzdem zusammen gewesen. Wir drei wie in den glücklichen Zeiten, die es nie gab.«
»Und unsere Mutter?«
»Sie wird stolz auf dich sein, was glaubst denn du, und du wirst ihr ein zweites Leben schenken.«
»Und die Tischlerei?«
Judas stand auf und knuffte Jesus so fest, dass es ihn zu Boden warf. Dann lächelte er und hielt ihm den Arm hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Kraftvoll packte Jesus zu und zog ihn zu sich herunter. Lachend rollten sie sich auf dem Boden, und als sie nach Hause kamen, schimpfte Maria mit ihnen über ihre schmutzigen Kleider.
Gua Li hielt inne: Sie war ganz im Bann der Erzählung, und als sie Osmans verträumten Blick sah, den er nicht einen Augenblick von ihr gelassen hatte, bemerkte sie, dass sie die Mohnsamen vergessen hatte. Rasch bereitete sie die Inhalation vor, doch als sie neben Ferruccio Platz nahm, packte er sie am Arm. Er tat ihr nicht weh, doch sie schaffte es nicht, ihn den Dampf einatmen zu lassen und gleichzeitig sich selbst davor zu schützen. Während der Mann langsam wieder in den künstlichen Schlaf sank, spürte Gua Li, wie sie eine warme Trägheit und ein nie gekanntes Glücksgefühl erfassten. Und so war es nur eine Ausrede, als sie Ferruccios sinnlose Worte, die er im Schlaf murmelte, mit ihren Lippen wegzuküssen suchte.
39
Rom, 18. November 1497
»Meine Lieben!«
Mit diesen Worten empfing der zweihundertvierzehnte Pontifex Rodrigo Borgia seine Kinder. Der Papst saß im Zentrum des Botschaftersaals der Basilika auf einem vergoldeten Thron und zeigte keine Reaktion, als er seine Kinder, eines nach dem anderen, eintreten sah: Lucrezia, Jofré und Cesare. Die drei wunderten sich über die eigenartige Anordnung des Mobiliars: Normalerweise stand der große Schreibtisch aus florentinischem Alabaster in einer Ecke, sodass Alexander immer im Halbschatten saß und die Regungen seiner ihm gegenübersitzenden Gesprächspartner besser beobachten konnte. Cesare erinnerte die Anordnung an den Galgen auf dem Campo de’ Fiori: Er stand mitten auf der Piazza – damit ihn jeder sah und die Macht des Gesetzes fürchtete, die jeden verurteilen konnte: Juden, Hexen, Kriminelle oder säumige Schuldner. Beunruhigend fand Cesare außerdem die vier bereitgestellten Stühle – wo sie doch nur zu dritt waren.
Auf ein Zeichen ihres Vaters setzten sie sich. Zur Linken des Pontifex Cesare und Jofré nebeneinander; Lucrezia ließ einen Stuhl frei und nahm rechts von ihm Platz.
»Meine Lieben!«, wiederholte der Papst. »Habt Dank, dass ihr dem Ruf eures alten Vaters folgt
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