Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
erreichen?«, fragte sie und holte einen Bambusstock mit zahlreichen Kerben hervor.
»Wir sind seit elf Monden und zehn Tagen auf der Reise«, fügte sie hinzu. »Wir haben zehn Paar Esel gewechselt. Mir würde es gefallen, wieder in einem echten Bett zu träumen.«
»Meine Tochter, hast du vielleicht vergessen, dass der Schlaf auf dem Boden die Energien fördert und Körper und Geist ertüchtigt? Die Träume, die aus der Erde kommen, sind wahrhaftig, die Weichheit des Bettes aber fördert Alpträume.«
Die junge Frau seufzte und warf einen letzten Blick auf den Bosporus, den der Sonnenuntergang in lila-blaues Licht tauchte, dann wandte sie sich zu Ada Ta um. In den Augen des alten Mönchs erkannte sie die reine Liebe. Ihre Gefühle, die sie für ihn empfand, waren so vielschichtig wie die Farben des Himmels – vor allem waren sie aber rot. Rot wie ein Sonnenuntergang, der Wärme spendet und von dem man sich wünscht, er möge ewig dauern; rot wie die Farbe ihres Zyklus und rot wie die nächtlichen Wallungen, die von Zeit zu Zeit ihren Unterleib wärmten und von denen sie niemandem erzählt hatte, nicht einmal Ada Ta. Sie schämte sich ihrer Gedanken und versteckte ihre Scham im Gesichtsschleier ihres Saris.
»Ich bin müde«, flüsterte Ada Ta, »darf ich mich an dich lehnen?«
»Das musst du mich nicht fragen, denn das habe ich bei dir mein ganzes Leben lang getan.«
Leicht berührte Ada Ta ihre Schulter, und Gua Li spürte das ganze Gewicht seiner Erfahrung.
»Ada Ta, bist du dir wirklich sicher, dass der Sultan uns empfangen wird?«
»Das einzig Sichere sind die Gefühle, die wir in dem Augenblick spüren, in dem sie in uns geboren werden.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass nur das vergängliche Jetzt uns Sicherheit gibt.« Ada Ta hielt inne. »In diesem Punkt sind Lao-Tzu und ich uns übrigens nicht einig. Erinnerst du dich, dass er sagt, man müsse den Weg des Vergangenen gehen, um das heutige Dasein lenken zu können? Ich glaube, dass nur ein Dummkopf andauernd zurückblickt – so wie ein Verrückter ausschließlich in die Zukunft schaut – der wahrhaft Weise lebt im Hier und Jetzt.«
»Bitte lass das, Ada Ta, ich habe dir nur eine einfache Frage gestellt. Ich will keine Lehrstunde in Philosophie.«
»Ich weiß, aber zu wissen, dass man nichts weiß, ist die höchste Weisheit und nicht wissen, dass man nichts weiß, ist ein Übel. Nun, das Übel einfach nur für ein Übel zu halten ist allerdings kein Übel.«
Gua Li runzelte die Stirn, zog die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das hast du schon als kleines Mädchen getan.« Der Mönch lächelte. »Und mitunter hattest du auch recht, wenn du schmolltest. Ich bin nur ein alter Mann, der immer noch große Lust hat zu spielen.«
»Aber ich spiele auch gerne«, protestierte Gua Li. »Ab und an brauche ich allerdings auch eine konkrete Antwort von dir.«
»Ja … die Antworten … Aber überlege doch einmal, wie schön Fragen sein können. Antworten setzen allem ein Ende – Fragen öffnen den Himmel und erweitern die Seele. Ist es nicht schöner, eine Tür zu öffnen, als sie zuzuschlagen?«
»Ada Ta! Du lachst!«
Der Mönch hob den Kopf, atmete die frische Abendluft ein, und Gua Li sah seine Lachfalten hervortreten.
»Ich glaube«, sagte er dann, »um den gefräßigen Hecht zu fangen, muss man ihm eine wohlschmeckende Schleie vorführen. Nein, ich möchte nicht, dass du zornig wirst, und ja, ich weiß, dass es dir nie in den Sinn kommen würde, böse auf mich zu sein. Ich beantworte deine Frage gleich. Nur noch das: Die Schleie, die ich dem Sultan bot, war zu appetitlich, um sie abzulehnen. Sobald er unseren Brief erhalten hat, wird er uns nicht nur empfangen, sondern auch Gastfreundschaft, Schutz und Hilfe gewähren. Obwohl er seinen Vater umbrachte und dies auch mit seinem Bruder versucht hat, ist er ein aufgeklärter Mann.«
»Und ich serviere die Schleie. Von der langen Reise wird sie schon ganz verfault sein.«
»Du trägst den Kopf der Schleie in deinem Geiste, aber auch ich kann einen Leckerbissen anbieten. Zwar keinen so schmackhaften, aber immerhin einen gut erhaltenen, gepökelten.«
Gua Li schüttelte den Kopf.
»Welchen Leckerbissen denn? Ich habe Monate gebraucht, um die Geschichte Īsās in- und auswendig zu lernen …«
»Worte sind wie der Wind – sobald er verweht ist, springt der Bambus wieder in die Position zurück, die ihm die Natur gegeben hat. Ich trage eine Kopie von Īsās
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