Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Hochzeitsversprechen einzugehen. Als er bewusstlos war, brachten sie ihn fort und verluden ihn in Cäsarea auf einen Karren. Er befand sich bereits mitten in der Wüste, als er erwachte, zusammen mit hundert anderen Sklaven – viele waren fast noch Kinder, genau wie er. Tagsüber, wenn die Karawane stillstand, schützte er sich vor der sengenden Sonne mit einer Wolldecke, die gleiche, mit der er sich nachts gegen die beißende Kälte bedeckte, wenn sich die Karawane wieder in Marsch setzte. Die unbarmherzige Sonne erhitzte die Eisenketten so stark, dass sie den Sklaven die Haut versengten. Immer neue Brandblasen bedeckten seine Haut. Jesus sprach zwei Tage lang kein Wort, aber am dritten versuchte er, die anderen zu trösten. Sie saßen unter ihren Decken wie unter großen Zelten, da begann er mit ihnen zu sprechen. Und obwohl auch sein Herz, wie das der anderen, voller Trauer und Angst war, konnte er ihnen Trost spenden, sie ablenken und mit fantasievollen Geschichten über wundersame Tiere und Götter, die den Nachthimmel bevölkerten, unterhalten. Jede Nacht sprach er zu ihnen. Einmal zeigte Jesus ihnen einen weißen Streifen, der den Himmel durchzog. Er brachte sie zum Lachen, als er ihnen erzählte, dass dies Hera sei, die den Giganten Herakles stillte und dabei ihre Milch verlor. Als er ihnen den Giganten Orion zeigte und die sieben schönen Schwestern des Jupiters, die er bedrängt hatte und die ihr Bruder zum Schutz vor seinen Nachstellungen in sieben Sterne am Firmament verwandelt hatte, erröteten die Mädchen. Und alle staunten mit offenem Mund, als er ihnen am Horizont die Figur des mächtigen Zentauren zeigte, halb Mensch und halb Ross – der an einem vergifteten Pfeil starb, der in das Blut der neunköpfigen Schlange Hydra getaucht worden war.
»Das ist ein sehr schöner Teil der Geschichte«, sagte Ada Ta. »So menschlich …«
Er hielt die Augen geschlossen, und seine schläfrige Stimme verriet, dass der Schlaf nahte. Mit leiser Stimme fuhr Gua Li fort.
Ein dunkelhäutiger, arabischer Händler, Aban ibn Jamil genannt, begleitet von vier Dienern, reiste mit derselben Karawane. Sein Karren war reich beladen mit getrockneten Früchten, Amphoren mit Gerstenbier und Öl. In Ktesiphon würde er sie gegen Stoffe und Teppiche eintauschen und teuer an die reichen Römer in Jerusalem weiterverkaufen. Der Knabe hatte seine Neugier erweckt, und häufig lenkte er sein Kamel neben den Sklaventross, um seine Geschichten zu hören. Als sie an die Stelle gelangten, an der sich der Fluss Khabur mit dem Euphrat vereint, wurde die Karawane auf eine breite Galeere verladen, die flach im Wasser lag. Aban verlangte nach dem Kapitän der Galeere, und nach langen Verhandlungen und viel Dattellikör war der Handel perfekt: Der Händler zahlte 40 Silberschekel und löste den Knaben aus.
»Warum nimmst du mir die Ketten ab?«, fragte Jesus. »Hast du keine Angst, dass ich fliehen könnte?«
»Ich bin ein Händler und weiß, dass jedes Geschäft Risiken birgt. Solltest du fliehen, werde ich dich nicht verfolgen. Es bedeutet dann einfach, dass ich 40 Schekel verloren und mich in dir geirrt habe.«
»Dann verspreche ich dir, dass ich nicht fliehen werde. Meine Mutter hat mich gelehrt, dass man einen großen Mann nicht an seinen guten Taten erkennt, sondern daran, dass er das Richtige im richtigen Moment tut. Große Männer solle man ehren, lehrte sie mich auch – deshalb gelobe ich dir, nicht zu fliehen.«
»Hat dir deine Mutter all das beigebracht, was du weißt?«
»Ja, und sie hat mir auch Lesen und Schreiben beigebracht. Sie gab mir nicht nur Fisch, wenn ich Hunger hatte, sondern hat mich auch das Fischen gelehrt. Und auf Fragen zu antworten.«
Aban näherte sich dem Knaben, um ihm über das Gesicht zu streicheln, aber dieser zuckte heftig zurück. Der Mann hob die Handflächen vor die Brust.
»Es tut mir leid, ich hatte nicht vor, dich zu schlagen, noch wollte ich dir Angst einjagen. Weißt du, als ich klein war, verhielt ich mich auch so wie du. Aber mein Vater schlug mich häufig.«
»Mein Vater hat das noch nie getan. Und meine Mutter auch nicht.«
Der Knabe biss sich auf die Lippen und hob stolz den Kopf – trotzdem liefen ihm zwei Tränen über die Wangen. Aban hätte ihn gerne getröstet und in den Arm genommen, doch dann rief er sich in Erinnerung, weshalb er den Knaben gekauft hatte, und schämte sich dafür.
»Es genügt, wenn du mir viele Geschichten erzählst – solche, wie du sie bisher den
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