Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Tagebuch bei mir«, sagte er in einem ernsten Ton, »diejenige, die der italienische Graf erhalten sollte. Aber die Zeit war noch nicht reif. Er selbst teilte mir mit, dass er solange warten wolle, wie verbrannte Erde braucht, um wieder fruchtbar zu werden, und übergab seine Bücher den Flammen. Schließlich nannte er mir einen anderen Mann, dem ich den Samen der Erkenntnis übergeben soll. Wir gehen zu ihm, um ihm bei der Aussaat zu helfen und vielleicht andere Samen einzusammeln.«
»Was meinst du damit, Ada Ta? Ich wünschte so sehr, dass du einmal nicht in Rätseln sprächest.«
Der Mönch schloss die Augen, und Gua Li spürte, dass sein Geist durch Raum und Zeit reiste. Noch nie hatte sie ihn so traurig lächeln sehen. Sie vermied weitere Fragen und wartete, bis der Mönch in sich zurückkehrte und ihr wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.
»Bayezid der Gerechte ist nur ein Instrument, aber auch die Musik braucht Saiten und Holz, um gehört zu werden.«
»Wird der Sultan sich als Instrument gebrauchen lassen?«
»Die Fragen meiner Tochter sind wie Hundeflöhe – sie müssen unbedingt abgeschüttelt werden, damit sie nicht mehr jucken.«
Gua Li grummelte missmutig, ließ sich jedoch von der liebevollen Berührung seiner Hand besänftigen.
»Wir sind genauso sein Instrument. Sein Plan unterscheidet sich zwar von dem unseren, aber ungeachtet dessen können unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel führen.«
In der aufkommenden Dunkelheit erschienen die Festungstürme wie dunkle Riesen aus Stein. Der intensive Meergeruch mischte sich mit dem der viel zu früh erblühten Quittenbäume.
»Ada Ta, vor zehn Jahren, als ich noch ein Kind war, erzähltest du mir die Geschichte jenes italienischen Prinzen, der so edel wie Siddharta war. Sie klang wie ein Märchen. Mit offenem Mund lauschte ich dir und träumte schließlich Tag und Nacht von der Feuerkugel, die am Tag seiner Geburt über seinem Haupte erschienen war. Du erzähltest mir, dass er reich und schön war und den Weg der Erkenntnis und Entscheidung gehen wollte – als du mir jedoch sagtest, dass sein Wissen größer als seine Intelligenz gewesen sei, verstand ich das nicht. Ich habe seither unzählige Nächte von ihm geträumt: Er kam wie Prinz Siddharta – ganz in Gold gekleidet – auf einem weißen Ross dahergeritten. Es erschien mir wie ein Märchen – dass ich eines Tages Teil davon sein würde, hätte ich mir jedoch nie träumen lassen. Und nun sagst du mir, dass ich einen Mann, der ihn wirklich gekannt hat, kennenlernen werde, dass die Geschichte auf einmal kein Märchen mehr ist.«
»Das mag so sein – aber dann auch wieder nicht. Bereits die Entscheidung, sich zu entscheiden, ist eine Entscheidung. Es hängt von dir ab, meine Tochter, ob du deine Träume im Buch des Lebens niederschreiben willst. Dein Prinz war ein Häretiker – also einer von denen, der selbst entscheidet. Leider bringen aber nicht alle Entscheidungen nur Gutes, genauso wie auch das Gute nicht immer mit der Wahrheit übereinstimmt. Dieser Mann wollte sterben, weil er zu sehr von Leid durchdrungen war und sein Körper dies nicht mehr ertrug.«
»Du hast mir aber immer gesagt, dass der Weg des Weisen der Weg des Guten ist.«
»Das gilt für uns. Um die Grundlagen des Taijiquan zu erlernen, sind zwanzig Jahre täglichen Übens notwendig. Stell dir also vor, wie viele Jahrhunderte ein Barbar bräuchte – selbst wenn er erleuchtet wäre –, den Weg des Guten zu erkennen.«
Mit einer eleganten Bewegung zog Ada Ta mit der rechten Hand einen großen Kreis und streckte dann den linken Arm mit erhobener Handfläche vor sich aus. In schneller Reihenfolge reckte er seine gekreuzten Fäuste fünfmal – in die vier Himmelsrichtungen und zuletzt mit gekreuzten Fäusten gen Himmel.
»So, gerade konntest du Yang und Yin sehen«, sagte der alte Mönch, »ihre Vereinigung erzeugt Harmonie und Lebenskraft. Als die Liebste des Prinzen starb, schwächte dies sein Yin und verwandelte Wärme in Kälte und Leben in Tod.«
»Er verlor die Liebe? Und darum starb auch er?«
»Die Liebe leitet alle Dinge. Er zählte erst 31 Jahre und konnte nichts mehr tun, denn die Erkenntnis ist ein langer Weg. Schau mich an: Ich bin reich an Jahren, und doch habe ich erst wenige Meilen zurückgelegt. Außerdem musst du wissen, dass er aus dem Westen kam; ein Makel, für den er nichts konnte. Ein Teil von dir gehört ebenfalls dieser Spezies an. Und auch aus diesem Grund befindest du dich hier. Du musst
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