Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
sehen, beobachten und deinen Weg mit freiem Geist verfolgen. Nun ist es aber an der Zeit auszuruhen. Möchtest du dem Alten den Anfang der Geschichte erzählen? Nur den Anfang, dann ruhen wir, und einen Tag nach dem morgigen werden wir unsere Aufgabe in Angriff nehmen.«
Die Frau schien ganz in Gedanken versunken, und erst als sich Ada Tas Gesicht dem ihren näherte, reagierte sie: Sie zuckte zurück, als wolle sie eine Fliege vertreiben.
»Der Anfang ist aber der Teil, den du am besten kennst«, protestierte sie schwach. »Wird dir das nicht langweilig?«
»Ich verrate dir ein Geheimnis. Wenn ein Mann schön ist, erfreut sich die Frau immer, ihn zu betrachten, und wird nie müde, alle Einzelheiten an ihm zu erforschen. Ah, das Gleiche gilt auch für die Frauen.«
Gua Li errötete. Seit einiger Zeit hingen ihre Gedanken bei einem Mann, den sie zwar nicht kannte – für den sie aber eine Bewunderung verspürte, die bisweilen zu Liebe werden kann.
Bereit, ihr zuzuhören, nahm Ada Ta den Lotussitz ein.
Im Inneren des Tempels, im Saal der Quadersteine, wandte sich der Hohepriester Hannas ben Seth an seinen Sohn Eleazar. Nur noch die Schreiber und ein Rechtsgelehrter waren anwesend.
»Dieser Knabe, der den Namen Jesus trägt – wie kann es sein, dass er die Thora so gut kennt? Ich traue ihm nicht. Seine Mutter kommt aus einer ausgezeichneten Familie, aber sein Vater ist nur ein unwissender Handwerker.«
»Vielleicht verfügt er über magische Kräfte«, schlug Eleazar vor. »Das würde erklären, warum ihn die Eltern hier alleine in Jerusalem zurückließen, ohne sich um ihn zu sorgen.«
»Er ist erst zwölf Jahre alt«, entgegnete Hannas, »und er will sich bereits verheiraten. Wenn er achtzehn wäre, könnte ich ihn verstehen. Was hält Salomon davon? Was sollen wir tun?«
Salomon ben Gamaliel strich sich über seinen langen weißen Bart und warf sich den Zipfel seiner schneeweißen Tunika über die linke Schulter – dabei gab er den Blick auf zwölf wertvolle Edelsteine frei, die seine Bauchbinde verzierten. Der Erste Schreiber tat so, als würde er nachdenken.
»Es ist Gotteslästerung zu behaupten, dass man am Sabbat, nachdem der Schofar dreimal tönte, arbeiten dürfe – selbst das Füttern eines Kindes ist verboten. Es ist blasphemisch und gotteslästerlich, den HERRN mit unseren menschlichen Problemen zu belästigen. Es ist blasphemisch, gottlos und ein Sakrileg, über Gott wie über eine Mutter zu sprechen.«
»Gott, ich danke dir, nicht als Frau geboren worden zu sein«, scherzte Eleazar.
Mit einem bösen Seitenblick entließ ihn sein Vater, und Eleazar ben Hannas verließ zusammen mit zwei Schreibern den Sanhedrin.
»Jetzt sind wir alleine, Salomon. Sag mir, was du wirklich denkst«, wandte Hannas sich an Salomon.
»Das Gesetz spricht klare Worte: Auf Blasphemie steht die Steinigung.«
»Willst du einen zwölfjährigen Knaben steinigen lassen?«
Salomon schaute den alten Hannas ben Seth prüfend an. Er wollte sich vorher vergewissern, ob Hannas ihm eine etwaige Verantwortung alleine anlasten oder – im Fall seiner Zustimmung – das Todesurteil befürworten würde. Letztendlich hatte zwar der Sanhedrin das letzte Wort – die Versammlung hatte sich jedoch noch nie gegen eine Empfehlung des Hohepriesters ausgesprochen.
»In dem Moment, in dem er es wagte, im Tempel das Wort zu ergreifen«, antwortete Salomon, »hat er dem Privileg der Kindheit entsagt und ist zum Mann geworden. So lautet das Gesetz. Damit muss er sich auch wie ein Mann verantworten für das, was er sagt.«
»Also gut«, schnitt ihm Hannas das Wort ab. »Ich halte es aber für besser, wenn er verschwindet, ohne Aufsehen zu erregen. Denn wie sagst du immer: Auch ein Skandal ist eine Sünde. Ich weiß, dass morgen eine Sklavenkarawane nach Ktesiphon aufbrechen wird. Knaben wie er sind gesucht: Er ist robust und aufgeweckt, und mit seiner Intelligenz wird er keine Schwierigkeiten haben, einen Herrn zu finden, der ihn gut behandelt und seine Qualitäten zu schätzen weiß. Mit der Zeit wird er sich mit seinem Los abfinden.«
»Er wird lernen müssen, seine Zunge zu zügeln, sonst wird er sie früher oder später verlieren.«
»Gott wird für ihn sorgen, und sein Wille geschehe.«
Noch in der gleichen Nacht wurde Jesus mit einem Gemisch aus Cannabisextrakt und Mohnpulver betäubt. Er hatte auf die Rückkehr seiner Eltern gewartet, die zornig auf ihn waren, da er sich geweigert hatte, ein den Bräuchen entsprechendes
Weitere Kostenlose Bücher