Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Prostituierten auf die Straßen gelockt. Papst Innozenz hatte sie zählen lassen, vor ein paar Jahren: Neben den Kupplerinnen und Ausgehaltenen waren sie sechstausendachthundert: eine Prostituierte auf fünf Einwohner.
Er ließ sich von dem gemächlichen Wiegen der Sänfte einlullen und hing seinen Gedanken nach. Dass Rom tatsächlich die Höhle aller Laster war – so wie Savonarola immer behauptete –, gefiel ihm. Armer Mönch – er wusste ja gar nicht, was er alles verpasste. In gewisser Hinsicht war er sogar ein doppelter Dummkopf, denn wenn Savonarola nicht rechtzeitig mit seinem Gefasel aufhören würde, würde er den Krähen zum Fraß vorgeworfen. Die Bewegungen der Sänfte wurden langsamer, als sie das De’-Banchi-Viertel erreichten. Die Zuhälter grölten und würfelten, drosselten ihre Lautstärke jedoch und zogen die Hüte, als sie die Sänfte ihres Kunden erkannten. In den oberen Geschossen warteten die besten Kurtisanen, und für einen Scudo würde Alexander die drei Schönsten bekommen und seinen Leibwächtern auch noch ein paar abgeben.
4
Die Festung von Yoros,
auf der anatolischen Halbinsel, März 1497
Mit einem einfachen roten Pali bekleidet, stieg der Mann die letzten Stufen des Westturms hinauf. Die junge Frau hinter ihm musste ihren Sari über die Knie heben, um die Stufen zu erklimmen. Er reichte ihr die Hand, aber sie lehnte sein Angebot lächelnd ab. Aus der Satteltasche, die er sich umgehängt hatte, holte der Mann ein Stück Käse und einen Kanten Brot und teilte beides mit der jungen Frau, die, nach Osten gerichtet, gedankenverloren den Horizont betrachtete. Im Wasser spiegelte sich das goldene Licht.
»Ada Ta, sag mir, ist das dort in der Ferne Konstantinopel?«
»Wenn du meinst, dass es dort liegt, dann wird es wohl so sein. Es sind die Gedanken, die befehlen – hast du das vielleicht vergessen, Gua Li?«
»Immer treibst du ein Spiel mit mir, aber ich will es wirklich wissen. Meine Gedanken befehlen dir, dass du mir antworten sollst.«
Sie legte die Handflächen mit nach oben gerichteten Fingern aneinander und deutete eine leichte Verbeugung an. Der Mönch lachte.
»Schon gut. Mir scheint, dass unsere Gespräche nicht wie Staub, sondern vielmehr wie Blütenpollen im Wind verwehen. So sage ich dir also nun, dass das, was du dort vor dir siehst, durchaus Konstantinopel sein könnte – muss es aber nicht.«
Gua Li runzelte die Stirn und strich sich über ihr schwarzes Haar – das machte sie seit ihrer Kindheit, wenn sie nachdachte.
»Aber du erzähltest mir, dass wir vom Turm in Yoros die Stadt des Sultans sehen können.«
»Ja, genau, diese Stadt ist Konstantinopel – sie ist aber auch Byzanz und Nova Roma. Heute ist ihr der Name Istanbul am liebsten. Und wie du weißt, ist es am besten, den Dingen einen schönen Namen zu geben – denn das ist der Weg der Harmonie.«
Gua Li schüttelte den Kopf und machte sich über das Brot und den Käse her. Eine sanfte Brise, die vom Schwarzen Meer herüberwehte, blies ihr das schwarze Haar vor die Augen. Sie kannte Ada Ta ihr Leben lang, er war ihr Vater, ihre Mutter, ihr Spielkamerad und Erzieher. Das alterslose Gesicht des Mönchs hatte sich in all den Jahren nie verändert, genauso wenig wie seine Stimme, die er von ganz hoch bis ganz tief modulieren konnte, um die Bedeutung der Worte zu unterstreichen. Ada Tas Stimme konnte sie auch noch aus der entferntesten Ecke des Klosters von allen anderen unterscheiden. Und ungeachtet dessen gelang es Ada Ta noch immer, sie mit seinen Worten und Taten zu überraschen.
Bevor sie trank, reichte Gua Li ihm eine mit Seidenbrokat ummantelte und mit Pfingstrosen bestickte Trinkflasche aus Ziegenleder – ein Geschenk Ada Tas zu ihrem 18. Geburtstag.
»Du hast mir noch nicht erzählt, wie du uns in diese Festung hineingebracht hast. Der Janitschaream Eingang erscheint mir nicht besonders entgegenkommend.«
»Der Mann ist ein Riese und im Inneren ein Kind geblieben. Du musst nur zu dem Kind sprechen, dann gehorcht dir auch der Riese.«
»Eines Tages musst du mir zeigen, wie du das machst.«
»Das wird an dem Tag geschehen, an dem du mich nicht mehr danach fragen und den Weg der Schildkröte einschlagen wirst, die mit Geduld das erreicht, was das Kaninchen nie erreichen wird.«
Blitzschnell holte sich Gua Li ihre Trinkflasche zurück, trank einen kleinen Schluck und steckte sie zwischen die Falten ihres Saris.
»Was hältst du davon, dass wir den Trott des Esels nutzen, um unser Ziel zu
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