Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
im Augenblick war sie viel zu sehr damit beschäftigt, die Düfte, die aus dem Garten strömten, wahrzunehmen. Diese Gerüche waren die außergewöhnlichste Erfahrung der ganzen Reise. In ihrer Jugend hatte Gua Li schnell den Spaß daran verloren, nur die Frauen und Männer aus Ladakh oder der anderen naheliegenden Klöster am Geruch zu unterscheiden, deshalb hatte sie das Spiel erweitert und erprobte ihre Nase an allen Kreaturen, denen sie begegnete, von den Yaks bis zu den Ziegen. Im Laufe der Jahre hatte sie diese Fähigkeit derartig perfektioniert, dass sie die Anwesenheit eines Fremden im Kloster bereits an der Luft riechen konnte, genauso wie eine Bedrohung: ein dunkler Wolf oder bewaffnete Banden am Fuße des Berges. Gua Li war sogar in der Lage, die unterschiedlichen Absichten der Menschen zu erriechen: Grausamkeit und Gewalt verströmten einen speziellen Geruch. Ada Ta hatte ihre besondere Begabung schnell erkannt und Gua Li immer wieder ermutigt, ihren Geruchssinn weiter zu verfeinern.
»Du musst wie ein kleiner blinder Aal sein«, hielt er sie an, »der dank seiner Nase den Fluss hinaufschwimmt und auch unter Tausenden von Bächen den einen Ort wiedererkennt, an dem er geboren wurde.«
Alle Gerüche – widerwärtige und angenehme –, die Gua Li während ihrer Reise wahrgenommen hatte, waren hundertmal so intensiv und ungleich berauschender als diejenigen aus ihrem früheren Leben.
Sie war so tief in ihre Gedanken versunken gewesen, dass Gua Li gerade noch Ahmeds letzte Bemerkung vernahm:
»… wie die Zypressen, die im Koran die Ewigkeit und die weibliche Schönheit symbolisieren. Diese Zedern haben allerdings eine tiefere Bedeutung: Abu Musa überliefert uns die Worte des Propheten – sein Name sei für alle Zeiten gepriesen: Der Reine, der den Koran aufsagt, ist wie eine wohlriechende, köstliche Zeder. Der Reine, der ihn nicht aufsagen kann, ist wie eine wohlschmeckende Dattel, aber ohne Duft. Der Verdorbene jedoch, der den Koran zitiert, ähnelt dem Basilikum, duftend, aber bitter, während der Verdorbene, der ihn nicht zitiert, wie eine Koloquinte schmeckt, bitter und geruchlos.«
»Wenn Gua Li wieder unter uns weilt«, Ada Ta verbeugte sich leicht, »bin ich mir sicher, dass sie die Wunder dieses Gartens sehr wohl zu schätzen weiß. Sie wird den Anblick und die Gerüche miteinander verbinden und den feinen Duft der Magnolie, den herben der Wildorangenbäume, den erfrischenden der Myrtenbüsche und den bitteren der Buchsbäume genießen, die eine Quelle der Jugend sind – die mir über die Jahre abhandengekommen ist.«
Gua Li errötete, und Ahmed riss die Augen auf.
»Ihr seid der erste Besucher, der die Pflanzen und die Bedeutung der Wasserspiele unserer Gärten erkennt. Das ist gut. Der Sultan wird Eure Gesellschaft schätzen.«
»Einen Barbar erkennt man nicht an der Kleidung oder der Farbe seiner Haut, sondern an seinen Worten. Steht es so nicht in der Sure, die über die Frauen geschrieben ist?« Ada Ta legte die Hände als Zeichen des Friedens zusammen. »Nämlich, dass diejenigen, die geglaubt und Gutes getan haben, in die Gärten kommen, in denen die Bäche fließen? Vielleicht sind wir bereits unter ihnen, hier.«
Ahmed verneigte sich tief vor dem alten Mönch, und Gua Li konnte das Lachen kaum unterdrücken. Wortlos folgten die beiden ihrem Begleiter, der schließlich vor einer hölzernen Tür stehen blieb und sie bat einzutreten. Bevor der alte Mönch sie aufhalten konnte, war Gua Li der Einladung bereits gefolgt. Der Duft von Orangenhonig, der ihr entgegenströmte, war so betörend, dass sie die Augen schloss und den Duft tief einsog. Als sie ihre Augen öffnete, war sie sprachlos.
»Ada Ta, schau die vielen Kissen und diese Teppiche – fühl doch nur, wie weich sie sind.«
Gua Li streifte ihre Sandalen ab und lief über die Teppiche. In ihrer Begeisterung drehte sie Pirouetten. Durch das vergitterte Fenster drang ein Lichtstrahl, der Arabesken auf die gewebten Blumen und Vögelchen malte. Ada Ta betrachtete sie versonnen. Das erste Ziel hatten sie erreicht: Der Sultan hatte sie erhört. Der größte Teil ihrer Reise war damit beendet, die Reise der Ideen aber hatte gerade erst begonnen.
»Es ist wunderschön hier …«
»Dinge werden durch deine Gedanken schön. Hättest du Verstopfung, würdest du dich über die Bewegungen deiner Gedärme freuen. Solltest du hingegen unter dauernden Entleerungen leiden, wärst du darüber betrübt.«
»Ada Ta! Findest du wirklich,
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