Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
so wie es eigentlich rechtens wäre.«
»Ich glaube, dass du nicht mehr als 40 bezahlt hast, doch ungeachtet dessen biete ich dir 100 Schekel für den Jungen.«
Aban kratzte sich am Bart und verpasste sich eine Ohrfeige, um eine imaginäre Fliege zu verjagen. Dann leerte er in einem Zug sein Glas.
»Er ist nicht verkäuflich.«
»Komm schon, Aban, für dich ist doch alles verkäuflich.«
»Nicht der Junge, außer den offensichtlichen, besitzt er nämlich auch verborgene Qualitäten …«
Sayed wusste um Abans Vorlieben, und der Gedanke daran stieß ihn ab.
»Nein, es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Aban schnell. »So reizvoll es mir erschien – ich habe ihn nie angefasst. Doch es bleibt dabei: Er kann allen alles verkaufen, aber nicht sich selbst.« Aban haute das Glas auf den Tisch. »Und jetzt will ich gezuckerten Wein. Trinkst du mit mir?«
Der Kaufmann schüttelte den Kopf. Während eines Handels sollte man nie Alkohol trinken, und er wunderte sich über Aban, denn das passte so gar nicht zu ihm.
»Dieser Junge ist etwas Besonderes«, fuhr der Syrer fort. »Manchmal macht er mir Angst, aber ich kann nicht mehr ohne ihn sein. Zuweilen denke ich, er ist ein Dschinn, der mich mitten in der Nacht zerfleischen könnte, und zuweilen erscheint er mir wie ein Freund, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, um mich zu beschützen. Er ist flink wie eine Manguste und still wie eine Schlange, und wenn er dich anblickt, kannst du deinen Blick nicht mehr von ihm wenden – dann ist er wie eine Kobra, bevor sie zuschnappt.«
»Aber sie hat dich nie gebissen.«
»Ja, genau das ist es. Er hat mir nie Böses angetan – Böses, so wie wir es verstehen, und ich bin mir sicher, dass er mir niemals etwas tun würde. Wenn ich ehrlich bin, sind es seine Blicke, seine wenigen Worte und seine Gesten, die mich Tag für Tag umbringen, denn ich schäme mich für das, was ich bin.«
Beim dritten Glas Zuckerwein hatte Aban ein tränenüberströmtes Gesicht.
»Sayed, ich habe dich immer beneidet. Du bist jung, schön und reich, und niemand musste sich dein Stillschweigen erkaufen oder hat dich je für das erpresst, was du bist. Nimm ihn dir und gehe fort mit ihm. Ich will keinen einzigen Schekel für ihn – aber ich hoffe, er wird deine Seele austrocknen, dir den Schlaf rauben und dein Essen fad machen – so wie er es mit mir gemacht hat. Nimm ihn und geh – Hauptsache, ich sehe ihn nie wieder. Vielleicht gelingt es mir dann, wieder der Alte zu werden, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, nicht einmal meinem Gewissen. Und was deine Seide angeht – ich gebe dir nicht mehr als vier Goldstücke dafür.«
Mit seinen vier Dienern verließ Sayed Ktesiphon. Er setzte Jesus auf ein Pferd und sprach ihn während der Reise erfolglos in vielen Sprachen an. Erst als sie Hekatompylos erreichten, die Stadt der hundert Pforten im Reich der Parthen, lächelte Jesus ihn zum ersten Mal an. Sie folgten der Seidenstraße, die zwar Überfällen am stärksten ausgesetzt war, die zugleich aber auch die sicherste Route war, da sie von zahlreichen Karawanen gekreuzt wurde. So erreichten sie Merw. Jesus schlief neben ihm ein. Als sie endlich im reichen Samarkand ankamen, sprach Jesus zum ersten Mal zu ihm.
»Du bist ein guter Mensch, Sayed, aber du bist mit deinem Leben nicht zufrieden, weil du wie eine Mutter ohne Kinder bist.«
Da nahm Sayed seine Kette ab, die ihm am Tage seiner Geburt geschenkt worden war, hängte sie Jesus um und umarmte ihn.
»Das ist eine schöne Stelle, über die man meditieren kann«, sagte Ada Ta. »Eine Mutter ohne Kinder. Wenn du eines Tages ein Kind hast, wirst du dich daran erinnern und die wahre Bedeutung verstehen.«
»Wenn ich erst ein Kind habe, werde ich ja nicht ohne sein – warum sollte ich das also nicht schon jetzt verstehen können?«
»Weil man nur, wenn man etwas besitzt, weiß, wie es ist, es nicht zu haben. Sayed verstand nicht, aber der weibliche Part in ihm ahnte, was Īsā ihm sagen wollte, und dankte ihm dafür.«
Einen Augenblick später war Ada Ta in einen tiefen Schlaf versunken.
9
Florenz, April 1497
Die Pest.
Der Gonfaloniere di Giustizia, Bernardo del Nero, sprach dieses Wort mit größter Vorsicht und nur im Kreise der Prioren der Stadtbezirke aus. Der Saal der Fünfhundert war menschenleer, und das Echo der einsamen Stimme Bernardos hallte mächtig von den hohen getäfelten Decken zurück. In den Ohren der Prioren mussten seine Worte wie die Strafe Gottes
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