Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Zeugnis ablegen, betrügen und sogar töten.
Er hob den Blick und bemerkte, dass Gua Li ihn anstarrte. Die junge Frau hatte ihre Erzählung unterbrochen, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Sie roch den Hass mit einem bitteren, unguten Nachgeschmack in seinem Blut. Und dennoch – Ritter de Mola hatte Giovanni Pico della Mirandola, diesem Fürsten, der sie seit ihren Kindertagen zum Träumen gebracht hatte, so nahegestanden und hatte mit ihm so viel Zeit und Wissen geteilt. Das Gift, das durch seine Venen floss, kam nicht aus den Tiefen seiner Seele, sondern entsprang unendlichem Leid. Sanft berührte sie seinen Handrücken. Ferruccio zuckte wie von einer Tarantel gestochen zurück. Gua Li tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
Es waren zwei Jahre vergangen, seitdem Sayed das Haus in Debal verlassen hatte. Seine Besitztümer hatte er in Gold, Silber und Edelsteine verwandelt, die er sorgfältig auf dem Boden des Karrens versteckt hatte. Er lenkte den Wagen, während Īsā las und meditierte und Gaya sich den täglichen Aufgaben widmete, die von den Männern nur allzu gerne vernachlässigt wurden.
»Der Mann ist von Natur aus ranghöher, das wissen alle«, unterbrach sie Gabriel, »und die Frau hat zu folgen.«
Grinsend wandte er sich an die anderen drei Männer, erntete aber nur strenge Blicke. Er entschied, dass es besser war, weiter mit seinen Würfeln herumzujonglieren, statt sich einzumischen.
Oft hielt das Mädchen inne und hörte Īsā zu, vor allen Dingen, wenn er Sayed diese vielschichtigen Fragen stellte, die keiner Antwort bedurften und denen der Händler oftmals nur mit einem zustimmenden Nicken begegnete. Mit der Zeit wurde sie immer mutiger, bis sie ihm ihre erste wirkliche Frage stellte.
»Glaubst du tatsächlich, dass alle Menschen gleich sind und dass ihr Schicksal nicht durch die Geburt, sondern von ihren Erfahrungen und Entscheidungen bestimmt wird?«
»Du hast dir deine Frage gerade selbst beantwortet, Gaya. Sie haben dich glauben gemacht, dass die Dunkelheit, in der du geboren wurdest, dein Leben sei – das der Unberührbaren. Und heute sprichst du wie ein Priester«, sagte Īsā lächelnd, »und schämtest dich auch nicht vor dem Brahmanen. Außerdem sind wir nur noch deshalb am Leben, weil Sayed und ich uns deiner weisen Tatkraft untergeordnet haben.«
»Aber ihr habt mir erst die Möglichkeit dazu gegeben, indem ihr mich mitnahmt. Wäre ich in Debal geblieben, hätten sie mir nicht einmal erlaubt, auf den Straßen den Kuhmist zu fegen, und ich hätte mich glücklich schätzen können, mich von den Abfällen der Armen ernähren zu dürfen.«
»Meine Mutter sagte einmal zu mir: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu . Ohne diesen Mann«, sagte Īsā und gab Sayed einen Stoß, »wäre ich schon tot oder du die Konkubine eines feisten Kaufmanns.«
»Und Ihr habt mich noch nicht einmal berührt. Gefalle ich Euch vielleicht nicht?«
Īsā holte tief Luft. Viele Nächte hatte er von ihr geträumt, und er erschauerte jedes Mal, wenn er ihr nahe war und ihren Atem spürte. Niemandem hatte er sich anvertraut, nicht einmal Sayed, der ihn immer damit aufzog, mit welchen Blicken er sie bedachte, wenn sie alleine waren. Dass so etwas ganz normal sei, fügte er dann immer noch hinzu, weil sie ein sehr hübsches Mädchen sei, und dass Īsā es ihm nicht gleichtun solle und den Freuden der Ehe entsagen. Gaya war wirklich die richtige Frau, um ein ganzes Leben mit ihr zu verbringen. Īsā dachte an seine Eltern und daran, wie er sich ihren Hochzeitsplänen verweigert hatte. Ihm wurde auch gewahr, dass die Erinnerungen an die Erlebnisse und Orte seiner Kindheit langsam zu verblassen begannen und sich mit seinem jetzigen Dasein vermischten.
»Du bist sehr schön«, sagte er zu Gaya, ohne sie anzuschauen, »und wenn du willst, dann bringe ich dich eines Tages an die Ufer des Jordans, und dort werden wir gemeinsam eintauchen, um uns zu waschen und zu reinigen. Wir werden weiße Kleider tragen, und ich werde dir einen goldenen Ring an den Finger stecken. Nachdem wir siebenmal gesegnet wurden, werde ich ein Glas mit meinen Füßen zertreten. Du wirst meine Mutter, meinen Vater und meine Brüder kennenlernen und sie dich als Eheweib ihres Sohnes Jesus …«
»Einen Augenblick. Wovon sprecht Ihr da?«
Ferruccio war aufgesprungen und zeigte mit dem Finger auf Gua Li. Als er aus dem Mund dieser Frau, die eine Zauberin sein musste, den
Weitere Kostenlose Bücher