Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
nach zu urteilen, waren es die Orsinis.«
Hinter den schweren grünen Samtvorhängen versteckt spähte Gabriel vorsichtig aus dem Fenster. Obwohl das Fenster durch massive Gitter geschützt war, wusste er doch nur allzu gut, dass ihn aus dieser Entfernung jederzeit der Pfeil einer Armbrust in den Hals treffen konnte.
»Sie haben das Tor geschlossen«, fuhr er fort. »Der Fürst wird erfreut sein, denn nun kommt niemand mehr rein oder raus. Damit bleibt uns nichts weiter zu tun, als Schach zu spielen oder zu würfeln – doch seid gewarnt, damit habe ich mir schon den ein oder anderen Krug Wein bezahlt.«
Niemand schenkte seinen Worten Beachtung, nicht einmal, als er aus seinem Säckchen drei Würfel hervorholte und sie geschickt in seiner Hand tanzen ließ.
»Ich meinte ja nur …, um sich die Zeit zu vertreiben.«
»Die Zeit sollte man sich nicht vertreiben. Jeder Tag, dem wir mit Faulheit begegnen, erscheint uns sehr lange. Doch wenn wir ihn mit Aufgaben füllen, die uns Freude bereiten, dann springt der Morgen behände zum Abend wie der Frosch, der auf eine Lotusblüte in seinem Teich springt. Zeit kann sehr fruchtbar sein wie ein wohl bestelltes Feld, das uns dann mit süßen und manchmal unbekannten Früchten belohnt. Ich glaube, dass meine geistige Tochter gut säen wird.«
Ferruccio wusste, dass er sich beruhigen musste. Er setzte sich und begann langsam und ruhig ein- und auszuatmen. Das half ihm, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Diese beiden Orientalen waren der Schlüssel, um Leonora wiederzubekommen, und es wäre dumm, sie sich zu Feinden zu machen. Zugunsten der Sorge um Leonora waren sogar die Thesen in den Hintergrund gerückt. Wenn dieser Alte also von ihm wollte, dass er dieser Frau zuhörte, dann würde Ferruccio das eben tun.
»Dann sei es so, wie Ihr sagt. Helft mir zu verstehen und habt Geduld mit mir. Ich war ein Diener der Waffen und bin es nach wie vor, leider, und nicht an Wortgefechte gewöhnt. Verzeiht. Und Ihr, Gua Li, wenn ich Euren Namen richtig verstanden habe, fahrt fort, ich bitte Euch.«
Vielleicht würde diese junge Frau ihm ja dabei helfen zu verstehen, warum ausgerechnet er für diese Mission ausgesucht worden war. Und vielleicht würde ihn diese Erkenntnis Leonora ein Stückchen näher bringen. Zweimal verlor er die Konzentration. Er hörte die junge Frau über einen Jüngling sprechen, dessen Menschlichkeit und Intelligenz größer waren als die derer, die auf Augenhöhe mit den mächtigen Priestern disputiert hatten. Und seine Gedanken verweilten bei den Worten des Kardinals über die Vision einer neuen Welt des Friedens und über einen neuen Messias – eine Rolle, die vielleicht Giovanni de’ Medici für sich selbst erträumte.
Ferruccio konzentrierte sich auf die beruhigenden Worte der jungen Frau, die über die Schwierigkeiten des Jünglings sprach und seinen Kampf gegen die Scheinheiligkeit. Die Einfachheit seiner Gedankengänge hob die alten Traditionen, die seit Jahrhunderten dazu dienten, Ungerechtigkeiten zu verschleiern und Privilegien zu untermauern, aus den Angeln. Plötzlich tauchten die vehementen Predigten Savonarolas in seinem Geiste auf, der die Kirche als schlimmsten Ort der Laster, der Doppelzüngigkeit und Hinterlist beschrieb. Früher oder später würden die Mächtigen diesen Wahnsinnigen, der in seinem Wahnsinn allzu oft die Wahrheit sagte, eliminieren – wie einen Hofnarren, der seinen Herrn mit den immer gleichen Späßen langweilt.
Die Kirche würde sich nie ändern – ihre Souveräne schon. Gerade darin aber lag ihre wahre Stärke. Der Kardinal hingegen wollte ihn Glauben machen, dass dieser Mönch und seine Schülerin der Schlüssel für eine radikale Veränderung sein würden. Wie konnte er annehmen, dass Ferruccio so naiv sei, ihm zu glauben?
Der Kardinal hätte ihm doch einfach nur zu befehlen brauchen, diese beiden zu beschützen, und ihm drohen, im Falle seines Nichtgehorsams Leonora töten zu lassen. Leonora war auch der einzige Grund, in dieser Farce mitzuspielen, in der alle beteiligten Schauspieler bereits tot waren und die Bühne nur noch von Schmierenkomödianten, Gauklern und Seiltänzern bevölkert wurde. So wie von diesen zwei Hanswursten hier. Sobald er ihr Spiel aber durchschaut hätte, würde er das Notwendige tun – allerdings mit Sicherheit nicht im Namen der Wahrheit, sondern ausschließlich, um seine eigenen Interessen verfolgen zu können. Er würde alles dafür tun, um Leonora wiederzubekommen: falsches
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