Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
über zehntausend Reitern und dreißigtausend Bogenschützen bestehe, dass es noch einmal doppelt so viele Lanzenträger und Schwertkämpfer gebe und dass Heraios’ Reich größer als das des Kaisers von China sei. Der Wind hatte ihre Gesichter mit grauem Staub bedeckt, und das Geräusch der flatternden Zelte erinnerte an den Flug von Abertausenden Kranichen. Im Inneren der großen Jurte verstummten auf einen Schlag der Lärm und die Geräusche des Windes, und es war nur noch das getragene, unablässige Schlagen der Trommeln zu vernehmen. Als die drei Wanderer eintraten, erhob sich eine Figur, die ein mit Goldarabesken besticktes Gewand trug, und bedeutete ihnen sich zu nähern. Īsā, gefolgt von Gaya und Sayed, näherte sich dem mächtigen Herrscher der Kuschana.
»Mir wurde berichtet, dass Eure Weisheit groß und Euer Alter gering ist. Beides bewundere ich. Und da ich nicht über die zweite Tugend verfüge, bemühe ich mich, wenigstens die Erstere zu erlangen.«
Īsā sprach nicht, denn er starrte immer noch auf den Kopf des Herrschers, der in einem Metallring eingequetscht war und der ihm so die Stirn deformiert hatte, dass sie hoch wie ein Festungsturm emporragte.
Mit Schrecken betrachtete Sayed den großen Bogen, der neben Heraios stand. Als dieser nach ihm griff, sah Sayed schon, wie sich die ganze Weisheit Īsās durch diese eine Beleidigung in Luft auflöste. Er sah sich schon bis zum Halse in Sand eingegraben, das Gesicht mit Honig bestrichen, damit sich Ströme von Ameisen, Wespen und Skorpionen gütlich daran täten.
Aber Heraios legte den Bogen in Īsās Hände.
»Das ist meine wertvollste Gabe. Nur derjenige, dessen Herz voller Weisheit ist, betrachtet das Unbekannte mit Neugier und ohne jedwede Furcht.«
Īsā nahm den Bogen und bewunderte dessen Größe und seine hervorragende Manufaktur, bevor er ihn an Sayed weiterreichte, der sich übertrieben untertänig bis fast auf den Boden verbeugte.
»Ich danke dir, Heraios, und unabhängig von dem Grund der Verformung deines Kopfes zählen die Ideen, die sich in seinem Inneren befinden. Die Milch der Kokosnuss ist süß und erfrischend«, bemerkte der Jüngling.
Heraios lachte herzlich.
»Über deine Ironie haben sie mir nichts berichtet. Ich befürchtete schon, einen Jüngling mit dem Geiste eines Alten anzutreffen, der neunmalkluge Urteile fällt und mich über das redliche Streben nach dem Guten und Wahren belehrt. Wenn dich mein Schädel nicht zu sehr erschreckt, dann setz dich zu mir und leiste mir Gesellschaft.«
An diesem Abend sprachen der Jüngling und der König lange miteinander. Der Vollmond hatte sich beinahe wieder in einen Halbmond verwandelt, als der Herrscher entschied, sich von ihnen zu verabschieden. Heraios überschüttete sie zum Abschied mit reichen Gaben. Doch bevor sich ihre Wege endgültig trennten, wollte er allein mit Īsā sprechen.
»Du kennst die Veda und den Glauben der Brahmanen; du kennst Buddha und Mahavira und allen voran Samsara, den Lebensfluss der Erde, der sie vereint. Und du stehst weder auf der einen noch auf der anderen Seite, denn du weißt, dass alles Teil eines einzigen großen Plans ist. Ich würde dich zu meinem Sohn machen wollen, wenn du nicht bereits wüsstest, dass du zu weit Höherem bestimmt bist. Und da ich mir wie jeder Vater nur das Beste für meinen Sohn wünsche und ihn nicht besitzen will, bitte ich dich nicht, bei mir zu bleiben. Geh dorthin, wo die Welt geboren wurde, dorthin, wo die Spitzen der Berge den Himmel berühren. Dort wirst du Männer treffen, die deiner Seele und deines Herzens würdig sind. Der Ring aus Eisen verhinderte, dass ich meine Studien mit denjenigen fortsetzen konnte, die die ersten Zeugnisse der Menschheit aufbewahren – in denen noch niemand bestimmte, wer wen anbeten oder welche Rituale er befolgen solle. Diese ersten Zeugnisse stammen aus einer Zeit, in der es noch keine Priester gab, um den göttlichen Hauch von Tara oder Maha , die nur einige der vielen Namen für die Große Mutter sind, empfangen zu dürfen. Ich hätte mir für mich ein anderes Schicksal gewünscht; aber nun wirst du es an meiner statt leben. Und anders als ich, der sich vom Leben entfernt und den Krieg bringt, wirst du dort oben deinen Frieden finden, den, den du heute mir spendest.«
In diesen Worten konnte Īsā den Schmerz erahnen, wie er sich in manchen Menschen den Weg zur Aufrichtigkeit bahnt, und er bat Sayed, ihn zu diesen Bergen zu führen.
Und so machten sie sich auf zu einer
Weitere Kostenlose Bücher