Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
nahesteht.«
Mit einem sauberen Tuch wischte die Äbtissin ihr den Mund ab. Dann holte sie ein Fläschchen hervor und tropfte Lucrezia ein paar Tropfen der darin enthaltenen Flüssigkeit auf die Lippen. Instinktiv presste die Patientin ihre Lippen zusammen.
»Vertrau mir und trink; es wird dich wieder zu Kräften bringen. Es ist Essigbalsam. Meine Cousine Beatrice aus Mantua hat es mir geschickt. Ich nehme jeden Tag drei Tropfen zu mir. Spürst du den süßsauren Wohlgeschmack? Der Balsam wird dir guttun. Du wirst noch mehr Kinder haben als dieses – das hat mir die Heilige Jungfrau gesagt. Vertraue auf Gott, meine Tochter.«
Lucrezia probierte von dem dargebotenen Göttertrank, der ihr sanft den Hals hinunterfloss und von dort bis in die Nase stieg. Sie schloss die Augen, als ihr die Äbtissin die Hand auf die Stirn legte. Sie glühte immer noch, und Mutter Candida biss sich auf die Lippen. Sie war sich sicher, dass die Ikone des heiligen Lukas zu ihr gesprochen hatte, befürchtete aber, ihre Worte missverstanden zu haben. Als sie sah, dass ihre Schutzbefohlene eingeschlafen war, befahl sie leise, ihr weiterhin nasse Leintücher auf Stirn und Unterleib zu legen. Dann nahm sie ihren Umhang und machte sich zur nahe gelegenen Basilika auf. Es war an ihr, demjenigen Bescheid zu geben, der vielleicht schon alles wusste oder diese Nachricht vielmehr mit Ungeduld erwartete.
Alexander VI. schwitzte. Vermutlich aufgrund der Hitze, aber höchstwahrscheinlich mehr noch aufgrund der beiden Depeschen, die auf seinem Schreibtisch lagen.
»Das ist nur der Schwanz des Teufels«, versicherte Cesare unruhig. »Es hat nichts zu bedeuten. Es wird ausreichen, wenn wir uns von diesen Festungen fernhalten.«
»Die Pestilenz ist ein heimtückischer Feind, den man nicht unter Kontrolle halten kann, Cesare. Es ist der Wind, der die Ausdünstungen der Erde durch die Luft weht. Und wenn du seinen Atem auf deinem Rücken spürst, ist es bereits zu spät, und du bist verfaultes Fleisch.«
»Hier sind wir in Sicherheit – soll sie sich doch ihren Weg durch das Volk bahnen. Wir geben ihnen Brot und Gebete zu einem guten Preis. Sie werden uns lieben und fürchten, Vater, und es wird einfacher sein, unsere Krone zu ernten.«
»Du verstehst gar nichts. Du kennst nicht die Geschichte – du weißt nur, wie man kämpft. Das aber kannst du, Gott sei Dank, wirklich gut. Du weißt vielleicht nicht, dass im letzten Jahrhundert in Istanbul nur einer von zehn überlebte; in Rom und Florenz war es nicht anders. An den Höfen in ganz Europa, in den Städten und auf dem Land kam die Pestilenz über die Menschen wie die Sense des Bauern über das reife Korn. Sie ist schlimmer als der blutigste aller Kriege. Sie ist die Geißel Gottes. Sie zerstört jedes menschliche Handeln, zerreißt die Ketten der Bestien, die in den Menschen hausen, und öffnet die Tore zur Hölle, deren Schrecken und grausame Gesetze Einlass auf Erden finden werden.«
»Vater, du sprichst beinahe wie ein Mann Gottes«, scherzte Cesare. »Du könntest dich mit Savonarola messen, doch mir brauchst du keine Angst einzujagen.«
»Ich bin derjenige, der Angst hat. Wenn die Pest ausbricht, werden sich die Menschen in zwei Lager teilen: in Wölfe und Lämmer. Die Lämmer werden ihren Gott um Gnade anflehen oder sich im Wahn über unbekannte Klippen stürzen. Die Wölfe hingegen werden auf die Jagd gehen und versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen.«
»Und wir haben einen Stier in unserem Heer, dessen Hörner gefährlicher als die Zähne der Wölfe sind.«
Das Gebälk des Papstsitzes knirschte wie Menschenknochen, als Alexander mit gestrecktem Arm und geballter Faust aufsprang. Verblüfft wich Cesare ob der heftigen Reaktion seines Vaters zurück. Dessen Worte waren vor Anstrengung kaum noch zu verstehen.
»Es ist eine Kettenreaktion, Cesare: Wenn die Bauern sterben, bestellt niemand mehr die Felder. Dann gibt es weniger Arbeitskräfte, und darum wird Arbeit teurer. Die sich selbst überlassenen Herden werden Opfer der streunenden Hunde, die ihrerseits immer zahlreicher und immer hungriger werden. Es wird an Nahrung mangeln, das Geld wird jeden Tag an Wert verlieren, und diejenigen, die noch etwas feilzubieten haben, werden niemanden finden, der noch über Geld verfügt, um es kaufen zu können. Die Macht wird wanken, doch es wird keine Wachen mehr geben, um sie zu sichern. Und in den unbewachten Kerkern werden die Gefangenen sich zuerst gegenseitig aufessen, um zu überleben. Es
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