Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
werden sich Horden zusammenrotten, um zu stehlen und zu vergewaltigen – wohl wissend, dass niemand da ist, um sie zu bestrafen, und dass jeder Tag ihres jämmerlichen Lebens der letzte sein könnte. Und auch wir werden jeden Tag erwachen und uns wundern, dass wir noch am Leben sind. Das Reich der Pestilenz ist das Reich der Gesetzlosigkeit und des Schreckens.«
Langsam klatschte Cesare viermal in die Hände und tat mit seinem Zeigefinger so, als würde er sich die Kehle durchschneiden.
»Amen! Wirst du das den Kardinälen auch so sagen, Vater?«
»Manchmal tut es mir von ganzem Herzen leid, dass Juan gehen musste und nicht du.«
»Und mir tut es leid, dass nicht du es warst, der gehen musste, Vater.«
Die Männer starrten sich an. Cesare senkte als erster den Blick und setzte ein breites Lächeln auf.
»Komm schon! Lass uns mit diesen Dummheiten aufhören! Sag mir lieber, was jetzt weiter geschehen soll. Ich brauche kein Bader oder Geschichtsgelehrter zu sein, um zu verstehen, dass ein kleines Aufflackern der Krankheit nicht gleich eine ganze Epidemie bedeutet.«
»Cesare, du hast immer noch nicht verstanden: Die Pestilenz ist wie eine Welle, die immer größer wird, langsam und unerbittlich. Nichts und niemand wird sie aufhalten können, nicht einmal Gott, wenn er sie erst einmal auf den Weg gebracht hat. Sie fällt nicht hier und da wie ein leichter Regen. In unserem Fall …«, Alexander zeigte mit dem Finger nach oben, als wolle er eine Erklärung des Allmächtigen, »erreichen mich plötzlich Nachrichten über zwei Tote hier, drei dort, eine ganze Familie an einem weiteren Ort. Alle weit voneinander entfernt. Das ist nicht normal, verstehst du? Die erste Aufgabe eines Königs ist zu verstehen, was in seinem Reich und in den angrenzenden Territorien vor sich geht. Zuerst verstehen, dann handeln: Das hast du immer noch nicht gelernt. Aber sei vorsichtig, du bist der Einzige, den ich jetzt noch habe.«
»Mich und Jofré …«
»Erst, wenn ich mir sicher sein kann, dass er wahrlich mein Sohn ist.«
» Mater semper certa est, pater numquam, etiam si pater sanctum est. Wer die Mutter ist, weiß man immer sicher, wer der Vater ist aber nicht, selbst wenn er ein Heiliger ist.«
»Sanctus, du Esel. Es muss sanctus heißen. Jedenfalls hast du recht, selbst Heiligkeit schützt vor Kuckuckskindern nicht. Der heilige Josef ist das beste Beispiel.«
Giovanni Burcardo klopfte an die Tür. Er hatte der Äbtissin von San Sisto kein einziges Wort aus der Nase ziehen können.
»Eure Heiligkeit, Madonna Virginia d’Este, bittet um …«
»Schwester Candida, Burcardo, Schwester Candida.« Die Äbtissin schubste ihn zur Seite. »Verzeiht, Eure Heiligkeit. Kardinal, ich verneige mich auch vor Euch.«
Der eifrige Zeremonienmeister konnte seine Ohren spitzen, so viel er wollte, es drangen nur ein paar wenige Wortfetzen zu ihm durch. Also steckte er sein Büchlein wieder ein – nur einen Augenblick, bevor die Äbtissin wieder herauskam. Sie zog von dannen und hielt es nicht einmal für notwendig, sich von ihm zu verabschieden. Cesare war wie versteinert, und die Furunkel in seinem Gesicht waren rotglänzend angelaufen. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster. Die Gedanken um das zukünftige Königreich der Borgia, das sich in Gefahr befand, überschlugen sich, und jede Nacht hörte er die Stimme seines Bruders Juan. Er dachte an die Pestfälle, die von seinen Mannen aus Rimini, Norcia und Ferentillo gemeldet worden waren, und sah sich bereits unter den Verdammten in den infernalischen Malereien der Santa-Francesca-Kirche. Einmal hatte er seine Mutter zur Beichte dorthin begleitet. An den Wänden hatte er die Teufel abgebildet gesehen, die die Heilige mit toten Schlangen auspeitschten; einer von ihnen hatte sich gar in ihrem Schoß verbissen. Seitdem löste das Gefühl der Angst Wollust in ihm aus.
»Cesare!«
Die Stimme seines Vaters katapultierte ihn wieder ins Hier und Jetzt.
»Sie wird schon noch welche auf die Welt bringen – immerhin ist sie eine Borgia. Es gibt noch eine Geißel hier. Ich möchte, dass du diesen Brief von dem Medici liest.«
»Ich schneide ihm die Kehle durch.«
»Wem? Dem Medici? Sei kein Idiot.«
»Nein, dem, der Lucrezias Sohn ermordet hat.«
Alexander fasste sich an seinen Nasenhöcker, dann ans Kinn. Seine Hand glitt weiter an den Hals, den er sanft berührte und dabei feststellte, dass dieser leider schlaff und schwammig war.
»Alles zu seiner Zeit. Und entweder du hörst mir
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