Das Vermächtnis des Martí Barbany
Ränder der Molluskenschalen verletzten seine Handfläche, und beinahe hätte er losgelassen. Doch dann hatten er und sein Bündel schon den Holzboden des Lastkahns erreicht. Seine rechte Hand blutete stark. Er legte den Kopf des Mannes auf ein improvisiertes Kissen, das er aus dessen nassem Überrock zusammenfaltete. Er tätschelte ihm die Wangen, damit er aufwachte.
Nach und nach kam er zu sich, und Krämpfe durchzuckten seinen schwachen kleinen Körper, während er durch Nase und Mund Wasser von sich gab. Nun packte ihn Martí an den Schultern und zog ihn hoch, damit er nicht an seinem eigenen Erbrochenen erstickte. Als der andere sich etwas beruhigt hatte, richteten sich seine glasigen Äuglein auf seinen Retter, und auf seinen Lippen tauchte ein dankbares Lächeln auf. Dann kümmerte sich Martí um seine verletzte Hand, er riss mit den Zähnen einen Streifen vom Rand seines Hemds ab und benutzte ihn als Binde. Ein schwacher Mondstrahl erleuchtete die Szene, und in seinem blassen Licht erkannte Martí den Mann, den die beiden Kerle während des Abendessens in der Goldenen Muschel belästigt hatten.
»Was ist Euch zugestoßen?«
Mit beinahe unhörbarer Stimme antwortete das Männlein: »Zwei Schufte haben mich überfallen, sie haben meinen Beutel gestohlen und mich ins Meer geworfen. Wenn Ihr nicht gewesen wäret, wäre ich jetzt schon zu meinem Schöpfer heimgekehrt.«
»Wartet hier auf mich, ich komme in einem Augenblick wieder.«
Als der andere von seinem Beutel sprach, erinnerte sich Martí an seinen Sack und rannte los, um ihn zu holen. Über einen Brettersteg, der den Lastkahn mit dem Hafen verband, kam Martí aufs Festland und lief zu der Stelle, wo das Boot auf dem Gerüst lag. Er betete im Innern, dass niemand den Sack bemerkt hatte, denn ohne seine Dokumente wäre er verloren. Zum Glück lag der Sack noch da. Als Martí zu dem Mann zurückkehrte, war dieser schon aufgestanden. Er hielt sich am Seil fest, das die Fläche der Muschelplattform umgab, und wollte an Land gehen.
»Was habt Ihr vor? Wollt Ihr wieder ins Meer fallen?«
»Durchaus nicht. Entschuldigt die Mühe, die ich Euch heute Nacht gemacht habe. Ich habe wirklich geglaubt, dass Ihr nicht zurückkommt.«
»Nun, dann habt Ihr Euch geirrt.«
»Darüber freue ich mich, weil Ihr für mein Leben verantwortlich seid.«
»Warum wollt Ihr mir außerdem noch diese Pflicht aufbürden?«
»In meiner Heimat heißt es, wer einem Mitmenschen das Leben rettet, verbürgt sich für ihn.«
»Woher kommt Ihr?«
»Aus einem Dorf nördlich von Kerbela.«
»Für heute Nacht nehme ich diese Verantwortung an. Ich begleite Euch nach Hause, damit Ihr nicht noch eine schlimme Begegnung habt.«
»Dafür bin ich Euch ewig dankbar.«
Beide gingen los. Der Mann stützte sich auf Martí, der bis auf die Knochen durchnässt war. Sie kamen durch Straßen und Gassen, bis sie einen dunklen Durchgang erreichten. Die zwei zitterten vor Kälte. Das Männchen, das Hassan al-Malik hieß, zeigte Martí den Weg. Die Leute, die ihnen unterwegs begegneten, hielten sie für zwei Betrunkene, die sich beim Laufen gegenseitig stützten, was andererseits recht alltäglich war, weil sich in diesem Viertel viele Seeleute herumtrieben, die gerne einen über den Durst tranken. Schließlich kamen sie zu einem armseligen zweistöckigen Gebäude, in dessen Zwischengeschoss der Mann wohnte. Martí fasste Hassan unter den Armen und stieg mit ihm eine kurze Treppe hinab, die vor einer Tür endete, neben der sich ein kleines, von einem Eisengitter geschütztes Fenster befand. Auf einen Wink des Männchens holte Martí einen Schlüssel aus einem Blumentopf, der im Fenster stand, und schloss auf. Das wieder schimmernde Mondlicht und die noch in einem Kamin glühende Asche erlaubten ihm, das Zimmer zu betrachten. Es war quadratisch, und die Augen konnten alles mit einem Blick erfassen. Neben der Feuerstelle befanden sich die Schüreisen und ein Bratrost. Außerdem sah er einen Topf, der an einem Haken hing und den man mit einer kleinen Blockrolle hoch- und hinunterziehen konnte. In der Zimmermitte stand ein Tisch und darauf ein Behälter mit einem Docht, der in einer dicken und schwarzen, stark riechenden Flüssigkeit schwamm. Daneben standen drei wacklige Stühle; bei einem fehlte die Rückenlehne. In einer Ecke entdeckte Martí ein Feldbett mit einer Felldecke, die von einem ihm unbekannten Tier stammte. Über dem Kopfende des Bettes öffnete sich eine Nische. Sie enthielt ein
Weitere Kostenlose Bücher