Das Vermächtnis des Martí Barbany
ihrem Geliebten erfuhr. Doch da wurde sie unversehens von der Aufforderung überrascht, ins Arbeitszimmer ihres Stiefvaters zu kommen.
Der Diener, der immer an der Tür ihres Vormunds wachte, ließ sie durch. Laia klopfte, und die raue Stimme ihres Stiefvaters antwortete von innen.
»Komm herein.«
Das Mädchen steckte den Kopf durch die Tür und fragte: »Ihr habt mich rufen lassen?«
Der Ratgeber stand liebenswürdig auf und bejahte.
»Ja, meine Tochter. Komm herein und setz dich.«
Laia hatte eine schlimme Vorahnung, und sie nahm an, dass etwas Schwerwiegendes bevorstand. Sie schritt langsam durchs Zimmer und setzte sich ihrem Stiefvater gegenüber.
Unterdessen spielte Bernat, wie es seine Gewohnheit war, mit einem Messer, das auf einem Silbertablett lag.
Der Alte begann die Unterredung mit ernster Stimme.
»Du hast mich enttäuscht, Laia.«
Das Mädchen hob die Brauen und starrte ihn fragend mit ihren großen grauen Augen an.
»Du hast das Vertrauen verletzt, das du mir als Vater schuldig bist.«
»Darüber haben wir schon tausendmal gesprochen«, antwortete Laia in angespannter, aber entschiedener Haltung. »Ihr seid nicht mein Vater.«
Bernat warf das Messer heftig auf den Tisch.
»Und darüber freue ich mich! Vielleicht ist das besser für mich. Jedenfalls bin ich für dein Leben verantwortlich: Du wohnst unter meinem Dach, du führst ein sorgloses Leben auf meine Kosten, und in diesem Haus darf nichts meiner Aufsicht entgehen. Du hast mich enttäuscht, Laia. Jemand hat dieses Köpfchen, das ich so sehr liebe, mit eitlen Träumen gefüllt, und du warst so dreist, dass du versucht hast, Entscheidungen zu treffen, die nur mir zustehen.«
»Hebt nicht die Stimme, ich höre Euch gut. Ich lebe von der Erbschaft, die mein richtiger Vater meiner Mutter hinterlassen hat, und ich will und brauche nichts von Euch«, entgegnete Laia, über ihre eigene Kühnheit erstaunt.
»Also gut, bis du großjährig bist, bin ich dein Vormund. Das gibt mir das Recht, deine Erbschaft so anzulegen, wie es mir am besten gefällt. Ich kann dafür sorgen, dass sie sich in Luft auflöst, sodass du entweder klägliche Reste oder ein sehr gut saniertes Vermögen erbst. Das hängt von dir ab.«
Laia dachte einen Augenblick darüber nach. Vorläufig wusste sie ja noch nicht, welchen Zweck dieses Gespräch hatte.
»Und wovon hängt es ab? Was habe ich getan, dass es eine solche Drohung verdient?«
»Da du dich als Frau aufspielst, will ich dich als solche behandeln. In deinem Zimmer und in einem Kasten hast du ein paar Briefe aufbewahrt, die dem Vertrauen widersprechen, das ich dir bis heute geschenkt hatte.«
Das Gesicht des Mädchens überzog sich mit Leichenblässe, und zugleich bedeckte kalter Schweiß ihren Körper. Sie schluckte und wartete.
»Darin macht man dir Liebesanträge, und wie ich daraus schließe, sind sie die Antwort auf andere Briefe, die du zweifellos geschrieben hast. Sei so anständig und antworte mir.«
»Einverstanden«, sagte Laia und unterdrückte einen Seufzer. »Ich liebe Martí, und ich will ihn heiraten, sobald ich großjährig bin, ob Ihr mich nun enterbt oder ob Ihr erreicht habt, dass sich mein Vermögen in Luft auflöst. Ich kümmere mich nicht um die Güter dieser Welt. Außerdem«, setzte sie mit fester Stimme hinzu, »meine ich, dass es niederträchtig ist, den Geheimnissen der anderen nachzuspüren.«
Bernat verzog das Gesicht zu einem schiefen und tückischen Lächeln.
»Das ist meine Pflicht. Ich könnte dem Vertrauen schlecht gerecht werden, das mir deine Mutter gewährt hat, wenn ich die Aufgabe vernachlässige, über dich zu wachen, während du noch beinahe gar nichts vom Leben weißt.«
»Redet nicht von meiner Mutter, die durch Eure Schuld halb wahnsinnig gestorben ist! Mir ist es lieber, dass Ihr Euch nicht so sehr um mich sorgt, wenn das bedeutet, dass ich nicht dem schreiben darf, dem ich schreiben möchte.«
»Wie töricht du bist! Ich kann mit dir machen, wozu ich Lust habe. Ich kann dich in ein Kloster stecken oder dich dem geben, der mir passt, und dir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehorchen.«
»Tut mit mir, was Euch gefällt, aber niemand kann über meine Gedanken bestimmen.«
Der Alte änderte den Ton: »Das alles geschieht zu deinem Besten, Laia. In meinem ganzen Leben habe ich keinen gefunden, der deiner würdig wäre. Wenn du gut zu mir bist und dich nach meinen Wünschen richtest, bist du, wenn ich sterbe, die reichste Frau Barcelonas.«
Laia
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