Das Vermächtnis des Martí Barbany
nicht: Ihr habt noch alles vor Euch, und sie kann nichts mehr tun.«
»Ich beneide die Liebe, die sie in Euch erweckt hat und die sich über den Tod hinaus erhält.«
In diesem Augenblick sah Martí das Mädchen, das vollkommene, von einem weißen Tuch umrahmte Oval ihres Gesichts und ihre dunklen Mandelaugen in einem neuen Licht, und er dachte, dass der Mann, der sie heiratete, glücklich sein müsste.
Doch da öffnete sich die Tür der Galerie, und Baruch Benvenists würdevolle Gestalt erschien.
Martí nahm einen gewissen Unterton in der Stimme des Geldverleihers wahr, als sich dieser an seine Tochter wandte.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, Ruth, wenn ein Gast in dieses Haus kommt, sollst du dich zurückziehen und ihn allein lassen, sobald du ihm einen Platz angewiesen und dich um ihn gekümmert hast! Es ist ungezogen, wenn man die Leute nötigt, Gespräche über belanglose Themen anzufangen, die nichts zu bedeuten haben.«
Martí griff ein, um das Mädchen zu verteidigen.
»Das stört mich nicht. Ganz im Gegenteil, es unterhält mich.«
»Ihr seid sehr liebenswürdig«, entgegnete Baruch mit finsterer Miene. »Aber sie weiß, was ich meine.«
Das Mädchen ging, ohne ihrem Vater zu widersprechen, was Martí verwunderte.
»Sie wachsen zu Frauen heran, lieber Freund, und kein Mann darf glauben, dass er eine Rose pflücken kann, ohne sich an einem Dorn zu stechen.«
77
Abenamar
Es war Freitag. Die Massen hatten die Straßen überflutet. Das Volk wollte sehen, ob alle Wunder, die man über diesen Zug erzählt hatte, zutrafen oder bloße Phantasiegeschichten waren. Die Fenster der Wohlhabenden waren mit roten Damaststoffen und die Fenster in den Häusern des einfachen Volkes mit bescheideneren bunten Tüchern geschmückt. Die Menge hatte sich mit ihren besten Festkleidern herausgeputzt und stand dicht gedrängt an dem Weg, auf dem die Abordnung entlangkommen sollte. Auf ausdrücklichen Wunsch der Gräfin hatte man vereinbart, dass der Zug gegen Abend in die Stadt eintreten sollte, damit das künstliche Licht, das man an Straßen, Plätzen und Mauertoren anzünden wollte, in seinem ganzen Glanz zur Geltung kam. Die Städter hatten ihre Verwandten aus den Dörfern eingeladen, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, dem Ereignis beizuwohnen, das zusammen mit der neuen Beleuchtung einen Wendepunkt im Leben der Stadt bedeutete. Der Zug sollte durch das Tor am Castellnou hereinkommen und sich am Rand des Call bis zur Sant-Jaume-Kirche entlangbewegen. Von dort aus würde er zum Bischofstor hinaufsteigen, bis er das rechts liegende Grafenschloss erreichte. Die Gerichtsdiener wurden gar nicht damit fertig, den Volkshaufen zurückzuhalten, der die an der Strecke aufgestellten Holzhürden verschob, weil er besser sehen wollte.
In der Umgebung des Schlosses vermochte man kaum eine Gasse offen zu halten, auf der die Gäste einziehen konnten. In Wagen und Sänften und auf Tragstühlen kamen sie zum Schloss, wie Fliegen, die einem Honigtopf entgegenschwirren. Die Pagen eilten hin und her, um den Fahrern zu helfen, die die prächtig aufgezäumten, von so viel Licht und Betriebsamkeit erregten Pferde mit den eingeölten und glänzenden Mähnen und den gekämmten Schweifen zügelten. Sämtliche mit den Berenguers
verwandten Familien, die beanspruchten, eine Rolle bei Hofe zu spielen, waren anwesend. Alle machten einander die Ehre streitig, bei dem Fest am glanzvollsten und besten gekleidet zu sein.
Der Veguer Olderich von Pellicer empfing die Gäste am Haupttor. Ihn umgaben Amtsstabträger, die auf ihren Galagewändern das schachbrettartige Wappen der Berenguers trugen und sich das Haupt mit Samtbaretten bedeckt hatten. Die Gäste stiegen die mit Teppichen ausgelegte Treppe zwischen zwei Reihen von Funken sprühenden Fackeln hinauf und wurden dann angekündigt, bevor sie den großen Saal betraten.
Martí hatte sich frühzeitig eingefunden, um sich zu vergewissern, dass das Licht seiner Laternen richtig brannte. Ein Geleitbrief der Gräfin gestattete ihm, sich als Verantwortlicher für die gesamte Beleuchtung überall frei zu bewegen. Von Weitem entdeckte er den sorgfältig gekleideten Eudald Llobet. Dieser wartete zusammen mit dem Bischof von Barcelona, dem Dekan der Kathedrale und anderen Geistlichen aus den einzelnen Pfarrgemeinden der Stadt an einer Seite des leeren Throns, bis die Gäste ihre vom strengen Protokoll vorgeschriebenen Plätze einnahmen.
Das Geschrei des Volkshaufens kündigte noch vor den Trompeten
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