Das Vermächtnis des Martí Barbany
ihr auf ihrem Weg auf, und von welchem ruhmreichen Geschick redest du?«
Der Zwerg sprach weiter, ohne sich um den Jungen zu kümmern.
»Ich will Euch meinen Vorschlag begründen. Ihr mögt gewiss denken, dass ich ein Verrückter, Träumer oder Narr bin. Ich will Euch meine
Ehrlichkeit beweisen, indem ich Euch Ereignisse voraussage, die Euer Leben prägen sollen. Ich habe es nicht eilig: Kommt und holt mich, wenn das betreffende Ereignis eintritt. Hier werdet Ihr mich finden. Wenn ich mich hingegen irre, so überlasst mich meinem Schicksal.«
»Sprich. Ich höre dir zu«, drängte Almodis.
»Vorläufig weise ich Euch auf eine Spur aus der Vergangenheit hin, damit Ihr an meine Worte glauben könnt. So etwas lässt sich nachprüfen, während die Zukunft das Reich der Phantasie ist.«
In den Augen der Geschwister spiegelte sich eine einzige Frage.
»Heute feiert Ihr Geburtstag. Am Morgen hat man Euch eine Stute geschenkt, der Ihr den Namen ›Hermosa‹ gegeben habt. An Eurem rechten Oberschenkel habt Ihr eine weiße Narbe. Sie ist von einer Wunde zurückgeblieben, die Ihr Euch zugezogen habt, weil Euch Euer Bruder einen Stoß gegeben hat, als Ihr im Hauptturm auf die Zacke eines Strebepfeilers der Innenmauer geklettert seid. Das ist eine Geschichte, die nur Ihr beide kennt: Ihr habt Euch abgesprochen, darüber den Mund zu halten, aus Angst, dass er bestraft wird, und Ihr habt es nie verraten.«
Almodis und Adalbert sahen einander erstaunt an. Aus den Augen des Jungen sprach Furcht, während die seiner Schwester neugierig blitzten. Beide erinnerten sich ganz genau an ihre Vereinbarung.
»Dann sag mir, was die Zukunft für mich bereithält«, bat Almodis.
»Soll das heißen, dass Ihr den Handel annehmt?«, fragte der Zwerg.
»Du hast mein Wort.«
Der Kleine ging zu einem Winkel. Er machte ein Holzkästchen auf und holte eine dünne Knochennadel und ein weißes Tuch heraus.
»Gebt mir Euer Blut als Zeichen des Bundes.«
»Tu es nicht, Schwester!«, rief Adalbert.
»Lass mich!« Nachdem sie dem Jungen einen herausfordernden Blick zugeworfen hatte, streckte sie die Hand aus.
Der Kleine stach leicht in die Kuppe des Mittelfingers ihrer rechten Hand. Sogleich trat ein Blutstropfen aus, mit dem er das Tuch benetzte. Er faltete es sorgfältig zusammen und verwahrte alles in dem Kästchen.
»Ich habe Euer Blut, gebt mir jetzt Eure Hand.«
Das Mädchen streckte die weiße Hand aus, und das Männlein nahm sie mit den Fingerspitzen und prüfte sie aufmerksam.
»Nun gebt acht. Nach langen Umwegen, die ich nicht zu erkennen vermag, werdet Ihr Euer endgültiges Schicksal verwirklichen. Euer Blut wird eine Dynastie jenseits der Pyrenäen fortpflanzen. Ihr werdet die
Feindin von Päpsten sein, doch die schrecklichste Gefahr kommt von jemandem, der Euch sehr nahesteht. Die Geschichte wird Euch einen hervorragenden Platz einräumen. Wenn es sich anders verhält, könnt Ihr mich verbrennen lassen, aber wenn meine Vermutungen eintreffen, verlange ich meinen Anteil und möchte bei Euch und an Eurem Hof die Ereignisse Eures faszinierenden Daseins miterleben.«
»Du phantasierst. In ein paar Monaten heiratet meine Schwester Guillaume III. von Arles.«
Der Zwerg drehte sich zu Adalbert um.
»Ich habe gesagt, nach langen Umwegen. Ich habe nicht versichert, dass solche Ereignisse unverzüglich eintreten.«
»Lass ihn, Adalbert«, sagte Almodis. »Dieser Mann interessiert mich. Es ist gut, Delfín: Wenn ich mein Schicksal verwirkliche, kümmere ich mich darum, dass du auch deines verwirklichst. So soll es sein.«
Sie hatte diese Geschehnisse in ihrem Gedächtnis bewahrt, als wären sie erst einen Tag zuvor geschehen.
Almodis erinnerte sich an die Gelegenheit, die sie nutzen konnte, um Delfín zu sich zu nehmen. Am Nachmittag vor dem großen Tag führte sie ein Gespräch mit ihrem Herrn Vater, dem Grafen Bernard de la Marche. Es fand in der Sakristei statt, hinter der zentralen Apsis der Hauptkirche. Dorthin waren sie gegangen, um die Einzelheiten der Hochzeit zu proben. Der Graf war so fröhlich, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte, und in dieser Stimmung redete er mit ihr.
»Hör zu, Tochter. Morgen vollendest du einen der vortrefflichsten Pläne, für die jede adlige Frau, die sich rühmen darf, ihrer Familie, ihrem Rang und den Interessen ihres edlen Geschlechts zu dienen, vorherbestimmt sein kann. Deine Vermählung mit Guillaume von Arles wird das Schicksal unseres Hauses krönen. Unser Blut wird sich mit einem
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