Das Vermächtnis des Martí Barbany
anderen Stimmung zu ihr kam, sagte er bedeutsame Ereignisse voraus.
»Was gibt es, Delfín?«
»Herrin, ich weiß nicht, ob ich es wagen darf...«
»Da du dermaßen überstürzt in meine Gemächer eingedrungen bist und mir nun den Grund nicht erklären willst, lasse ich deinen Rücken mit einer guten Eschenrute peitschen, bis ich ihn geradebiege.«
Das Männlein zögerte kurz.
»Herrin, was ich so lange erwartet habe, wird geschehen. Der Mann, der Eurem Leben einen Sinn gibt, hat die Burg betreten.«
6
Pater Llobet
Barcelona, Mai 1052
D er Geistliche begleitete Martí Barbany durch die Räume der Pia Almoina. Im Vergleich mit den Zimmern, die er bisher gesehen hatte, wirkten sie auf ihn beeindruckend und majestätisch. Am meisten erstaunten ihn die hohen getäfelten Decken. Er war an die Dächer der Bauernhäuser seiner Heimat gewöhnt, und so fragte er sich, wie man solche architektonischen Wunderwerke vollbringen konnte. Als sie in ein Vorzimmer kamen, bat ihn der Mönch, dort zu warten, wobei er ihn allerdings noch einmal darauf hinwies, dass – wenn Martí sich hartnäckig weigere, ihm den Brief zu geben, damit er ihn an den Adressaten weiterreiche – seine Vermittlung damit sehr wahrscheinlich zu Ende sei. Martí zögerte einen Augenblick. Da er jedoch seinem endgültigen Ziel so nahe war, beschloss er nachzugeben und überließ dem Geistlichen das Schreiben. Der Mann ging durch eine Tür, die rechts von ihm unter einem Steinbogen aufging, und entschwand seinen Blicken. Martí hatte kaum Zeit gehabt, sich umzublicken, als sich die Tür wieder öffnete und jemand anders erschien. Dieser Mann entsprach nicht der Vorstellung, die er von einem Mönch hatte. Doch er ließ eine Saite in seinem Gedächtnis anklingen, die ihm nicht ganz unbekannt war. Der Mann steckte in einem Überrock, den er eng um den Leib gegürtet hatte, und darunter erriet man eine gewaltige Körpermasse, die eher zu einem Krieger als zu einem Kirchenmann passte. Ein riesiger Kopf mit einer Tonsur und Bürstenschnitt, wache Augen, buschige und dichte Brauen. In den Händen, die aus den weiten Ärmelöffnungen hervorsahen und auf ungewöhnliche Kraft schließen ließen, hielt die Gestalt den Brief, den er von seiner Mutter erhalten hatte. Martí stand auf, als ihn die forschenden Augen des Geistlichen musterten. Er
fühlte sich unsicher, und er beruhigte sich erst, als er bemerkte, dass die Augen des anderen offen lächelten.
»Also, Ihr seid Martí Barbany.«
»So ist es, Hochwürden«, sagte der junge Mann mit einer leichten Verbeugung.
»Ich habe Euren Besuch schon seit einiger Zeit erwartet. Ihr habt Euch ein wenig verspätet.«
»Der Tag meiner Abreise hing nicht nur von mir ab. Ich bin, oder genauer gesagt, ich war bis vor wenigen Tagen der einzige Mann im Haus, und meine Mutter ist nicht mehr jung.«
»Ein guter Sohn ist sicherlich ein guter Mensch«, urteilte der Geistliche. »Und Ihr als würdiger Sohn Eures Vaters müsst es ganz gewiss sein.«
»Wenn ich es bin, so hat das Beispiel meines Vaters nichts damit zu tun«, erwiderte Martí entschieden.
Der Geistliche registrierte erstaunt die scharfe Antwort des jungen Mannes.
»Ihr dürft keine Urteile abgeben, ohne dass Ihr alle Tatsachen kennt … Aber tretet ein, kommt in meine Zufluchtsstätte. Hier ist nicht der richtige Ort, um den Sohn eines so lieben Freundes zu empfangen.«
Der Geistliche ging voran, und Martí betrat einen Raum, in dem drei von vier Wänden mit Büchern und Pergamenten vollgestopft waren; außerdem waren ein bescheidener Schreibtisch und ein Betstuhl zu sehen, der an der Wand gegenüber einem groben Holzkreuz lehnte. Das Licht drang durch ein Fenster ein, und unten an der dicken Mauer standen zwei große Töpfe mit sorgfältig gepflegten Blumen, die die botanischen Neigungen des Geistlichen bezeugten.
Dieser ließ sich in einem prächtigen Amtssessel nieder und forderte Martí auf, sich vor ihn zu setzen. Er nahm eine Gänsefeder in die rechte Hand und drehte sie spielerisch hin und her.
»Also, Ihr seid der Sohn von Guillem Barbany von Gorb.«
»Dafür halte ich mich. Doch um bei der Wahrheit zu bleiben, muss ich sagen, dass ich mich bis zum heutigen Tag wenig darum gekümmert habe.«
»Warum sagt Ihr so etwas?«, fragte der Priester.
Martí antwortete freimütig: »Ich habe kaum eine nebelhafte Erinnerung an seine Person, und ich glaube nicht, dass meine Mutter und ich ihm allzu viel bedeutet haben. Für mich war er ein Fremder, und
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