Das Vermächtnis des Martí Barbany
ich
nehme an, dass ich es auch für ihn war. In meinem ganzen Leben habe ich ihn höchstens zwei- oder dreimal gesehen.«
»Ihr handelt nicht richtig, wenn Ihr über einen Menschen urteilt, ohne dass Ihr ihn kennt oder Euch nach den Umständen erkundigt, die zusammengewirkt und ihn gezwungen haben, sich so zu verhalten, wie er es getan hat.«
»Ich meine, dass es die erste Pflicht eines Vaters und Ehemanns ist, sich um seine Familie zu kümmern.«
»Selbstverständlich, falls es die Umstände erlauben, dass man immer mit ihnen zusammen ist. Aber manchmal kann man für die Angehörigen und Freunde mehr sorgen, wenn man weit entfernt ist, um eine übernommene Verpflichtung zu erfüllen, als wenn man ihnen Gesellschaft leistet, die zwar große Nähe, aber weitaus weniger Nutzen bietet.«
»Wenn ein Mann heiratet und Vater wird«, entgegnete Martí, »muss man voraussetzen, dass er die Zwänge auf sich nimmt, die ein solcher Entschluss mit sich bringt. Wenn er andere Pflichten und Aufträge vorzieht, sollte er keine Frau nehmen und noch weniger ein Kind mit ihr zeugen.«
Der Priester rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her, und als er wieder etwas sagte, hatte seine Stimme einen strengen Ton.
»Ihr beurteilt eine Lage sehr leichtfertig, die Ihr nicht kennt. Durch seine Geburt oder durch eine Verpflichtung kann ein Mann gezwungen sein, Aufgaben zu übernehmen, zu denen es vielleicht gehört, sich von seiner Familie zu entfernen. Ich fürchte, dass es Euch heute zweifellos unmöglich ist, so etwas zu erkennen.«
»Wenn Ihr es für richtig haltet, mir zu erklären, worin weitere Pflichten eines Ehemanns bestehen können, die darüber hinausgehen, für seine Angehörigen zu sorgen, verstehe ich vielleicht, was Ihr mir gegenüber rechtfertigen wollt.« Martí machte eine Pause, und dann sprach er mit zitternder Stimme weiter: »Trotzdem, eine solche Rechtfertigung klingt etwas sonderbar, wenn sich ein Kind daran erinnert, dass seine Mutter alle Tage ihres Lebens am frühen Morgen aufsteht und aufs Feld geht, im kalten Winter beinahe erfriert und im Sommer unter der glühenden Hitze leidet, das Ochsengespann führt und das Feld umbricht, die Schneide der Pflugschar hineinstößt, um den Boden zu säubern, und sich den Rücken krumm arbeitet, um die Ernte einzubringen.«
Der Erzdiakon schwieg. Er legte die zerdrückte Feder auf den Tisch, strich sich über den kahlen Scheitel und setzte erst dann zu einem Kommentar an.
»Ich glaube, ich muss Euch vieles erklären.«
»Ich höre Euch aufmerksam zu. Beginnt, wenn es Euch gefällt.«
»Ich war nicht immer Geistlicher. Vorher war ich Krieger, und dabei habe ich Euren Vater kennengelernt.«
In Martís Gedächtnis blitzte ein Licht auf, und aus dem Nebel seiner Kindheitserinnerungen trat die Gestalt des Mannes hervor, der viele Jahre früher zusammen mit dem Pfarrer mitten in der Nacht aufgetaucht war, in Martís Haus in Empúries, obwohl er sich damals natürlich ganz anders kleidete. Vorläufig sagte er nichts und beschränkte sich darauf, dem anderen zuzuhören. Der Geistliche sprach weiter: »Es war in den Tagen, als ich diesen schrecklichen Beruf erlernte. Euer Vater war in den Dienst des Grafenhauses von Barcelona getreten, um eine Verpflichtung zu erfüllen, die der Vater seines Vaters übernommen hatte, denn schon sein Großvater diente Ramón Borrell, dem Grafen von Barcelona, Gerona und Osona und Gatten der Ermesenda von Carcassonne. Es fiel ihm nicht leicht: Der Krieg ist ja für die Kriegsleute da, und damit ein Bauer zugelassen wird, muss er nicht nur ein Pferd besitzen, sondern braucht auch große Körperstärke und eine entsprechende natürliche Veranlagung. So haben wir unseren Weg und unsere Ausbildung gemeinsam begonnen, bis man uns für tauglich hielt, in das Heer des Elderich von Oris einzutreten, des Seneschalls der Gräfinwitwe Ermesenda. Sie war wieder Regentin der Grafschaft nach dem Tod ihres Sohns, des Buckligen, und während der Minderjährigkeit ihres Enkels Ramón Berenguer I. Wir nahmen an den Streifzügen teil, die der Seneschall der Gräfin an der Südgrenze durchführte, denn ihm mussten wir dienen, weil wir das Vasallenverhältnis fortsetzten, das unsere Vorfahren eingegangen waren, um gewisse Gunstbeweise zu vergelten. Dort lernten wir wirklich, uns zu schlagen, und vor allem gewöhnten wir uns an die Grausamkeit des Krieges. Unsere Herzen wurden fremdem Leid gegenüber unempfindlich, wenn man Ortschaften einäscherte, und der
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