Das Vermächtnis des Martí Barbany
freut sie sich sehr,
dass ich die Riten meiner Religion unter Eurem Dach befolgen kann. Sie hat mir empfohlen, dass ich es jedenfalls ganz unauffällig tun soll.«
»Wenn ich sie sehe, sage ich es ihr selbst, aber sonst richtet Ihr aus, dass sie sich keine Sorgen machen soll: Keiner von den Leuten hier wird Euch verraten.«
Andreu Codina, der Verwalter, klopfte leise an die Terrassentür.
»Was gibt es, Andreu?«
»Herr, ein Bote des Versorgungsamtes wartet im Hausflur auf Euch.«
»Um diese Zeit?«, fragte Ruth erstaunt.
»So ist es, Herr. Soll ich Euch entschuldigen?«
»Ganz im Gegenteil. Ich hatte ihn schon erwartet.«
»Habe ich es nicht gesagt, Martí? Nehmt Euch gut in Acht!«, rief Ruth.
Martí stand auf und ging in den Flur. Der Bote stand mit einem Brief in der Hand bereit.
»Ich bringe ein Schreiben, das ich Euch persönlich aushändigen soll. Ihr müsst den Empfang bestätigen.«
Der Mann übergab ihm ein Dokument. Martí las es aufmerksam durch, ließ Feder und Tintenfass von Andreu holen, unterschrieb den Zettel und gab ihn dem Mann zurück. Hierauf übergab ihm der Bote die offizielle Urkunde.
Sobald er gegangen war, riss Martí das Siegel auf und begann zu lesen. Anders als die Briefe, die er bisher von Bernat erhalten hatte, war dies eine amtliche Mitteilung, die ihn offiziell aufforderte, unter allen Umständen am Donnerstag, dem 6., in der ersten Morgenstunde im Versorgungsamt zu erscheinen.
86
Die Karten werden aufgedeckt
B ei dieser Gelegenheit achtete Martí sehr sorgfältig auf sein Äußeres. Er hatte den Ratgeber lange nicht gesehen, und dass er ihn nun treffen würde, nachdem er so vieles erfahren hatte, erregte ihn tief.
Seit Laias Tod hatte er sich stets schwarz gekleidet. Nun achtete er ganz besonders darauf, dass kein Farbtupfer aus dem strengen Schwarz hervorleuchtete. Selbst die Beinkleider und die Schuhe aus Damhirschleder bekundeten die Trauer, die seine Seele verdüsterte.
Als er sich zurechtgemacht und die hundertste Empfehlung Ruths angehört hatte, ging er mit hasserfülltem Herzen los.
Er nutzte den Weg, der ihn von seinem Haus bei der Sant-Miquel-Kirche zum Amt für Märkte und Versorgung führte, um innerlich noch einmal alle Maßnahmen durchzugehen, mit denen er sich schützen wollte. Der Ratgeber konnte zu einem schrecklichen Feind werden, und er selbst konnte gar nicht vorsichtig genug handeln. Je weniger Argumente der andere gegen ihn vorzubringen hatte, desto besser wäre es für ihn. Ungefähr einen Monat zuvor hatte er all seine Geschäfte in dem kleinen Laden und auf den Jahrmärkten jemandem übertragen, der Tomàs Cardeny hieß und der größte Sklavenhalter Barcelonas war. Die Weinberge und Mühlen von Magòria hatte er verkauft, und dafür hatte er neue Schiffe gekauft und außerdem in seine Werften investiert, um sie zu erweitern, mit Gießereien und Schmieden sowie mit zwei Schuppen auszustatten, in denen man zwei Schiffe unterbringen konnte, bevor man sie mit Takelwerk ausrüstete, sodass sich nun all seine Geschäfte außerhalb der Stadtmauern befanden und damit nicht den Stadtbehörden unterstanden. Schließlich hatte er an der Küste, neben dem jüdischen Friedhof auf dem Hang des Berges Montjuïc, mehrere Höhlen hergerichtet, in denen er die Amphoren mit dem schwarzen Öl lagerte. Am Eingang
zu den Höhlen hatte er eine kleine Hütte aufstellen lassen, in der die Wächter untergebracht waren, die dieses hochgefährliche Produkt beaufsichtigten.
Als er sein Ziel erreichte, fühlte er sich angespannt, aber entschlossen. Er stieg die Marmortreppe mit dem Eisengeländer hoch, die zur Säulengalerie im ersten Stock führte.
Auf dem Gang und vor den Nebenräumen beobachtete er das übliche Gewimmel. Die Leute gingen ihren Geschäften nach, doch in diesen Jahren hatte sich die Zahl der Antragsteller vervielfacht. Er war gerade erst zu den Bürotüren des Ratgebers gekommen, als ihn dessen Sekretär Conrad Brufau entdeckte. Der blasse und nervöse Mann ließ Martí wissen, der Intendant habe angewiesen, man solle ihn einlassen, sobald er eingetroffen sei. Der Sekretär brachte ihn zum Arbeitszimmer und zog sich zurück.
Dort hatte sich nichts verändert. Der Kamin, die riesige Sanduhr, der große Tisch. Sein Blut geriet in Wallung, als er feststellte, dass auf der Lederdecke des großen Tisches immer noch das unvergessliche kleine Bild des Mädchens mit den grauen Augen stand, die, so schien es, ihm etwas mitteilen wollten.
Die Tür hinter
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