Das Vermächtnis des Martí Barbany
Hand hoch und entdeckte, dass Euer Vater mir vor dem Tod den Ring an die Hand gesteckt hatte, den Ihr jetzt an der Eurigen tragt. Bevor ich in Ohnmacht fiel, sah ich noch flüchtig, dass sich ein Priester über meinen Körper beugte und die vorgeschriebenen Worte sagte, um meine Seele bei ihrer letzten Reise der Obhut Gottes zu empfehlen. Ihm vertraute ich mein Geheimnis an und bat ihn, wenn ich nicht überleben sollte, möge er den Auftrag erfüllen, zu dem das Pergament in meiner Tasche gehörte, und dabei zeigte ich auf meine Brust. Ich wusste nichts davon, aber man brachte mich in eine Burg meines Herrn. Als ich nach zwei Tagen aufwachte, entdeckte ich, dass ich nackt war: Meine Brust war mit Tuchstreifen verbunden. Sogleich dachte ich, dass ich den Auftrag Eures Vaters nicht erfüllen könnte, doch ich fühlte mich sehr erleichtert, als ich feststellte, dass neben mir die Tasche und darin der kleine Schlüssel lag. Eine barmherzige Seele, dachte ich... Später sagte man mir, ein Geistlicher habe die Tasche ein paar Tage zuvor gebracht, nachdem er erfahren hätte, dass ich mich von meinen Wunden erholte. Meine Genesung dauerte lange, doch sobald ich wieder zu Kräften kam, bat ich meinen Herrn um Erlaubnis und suchte Euer Haus auf, um den Wunsch meines Kameraden zu erfüllen. Ich erinnere mich an die Nacht damals, als wäre es heute. Eure Mutter zeigte, wie ich fand, die ganze Verbitterung eines Menschen, der um sein Leben gewürfelt und verloren hat. Ich gab ihr den Ring und sagte, sie werde von mir hören, wo, wann und wie Ihr zu mir kommen solltet. In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, was ich aus meinem Leben
machen könnte und wo ich mich befinden würde, wenn Ihr ins Erwachsenenalter eintretet. Aber wenn ich krank geworden wäre, hätte ich schon einen Weg gefunden, damit jemand in meinem Namen die Verpflichtung erfüllte, die ich Eurem Vater gegenüber übernommen hatte. Damals hatte ich mir schon fest vorgenommen, Gott zu dienen, um mein Gelöbnis zu erfüllen. Trotzdem hatte ich keine Vorstellung, wohin mich das Schicksal führen würde und wo Ihr mich einst finden könntet. Als mich meine Oberen hier für diesen Ort bestimmten, schickte ich Eurer Mutter einen Brief, in dem ich erklärte, dass Ihr mich aufsuchen und den Ring Eures Vaters am Ringfinger tragen solltet, so wie Ihr es getan habt.«
Martí wartete stumm und betrachtete gedankenverloren den Ring, der an seinem Finger glänzte. Dann ergriff er das Wort.
»Nun verstehe ich tatsächlich, was Ihr sagt: Man darf niemanden beurteilen, ohne dass man die ganze Geschichte gehört hat.«
»Mein Freund, Eure Mutter war ihr ganzes Leben lang verbittert, weil es sie tief betrübte, dass ihre Familie sie enterbt hatte und sie dafür nicht durch ein gemeinsames Leben mit ihrem Gatten entschädigt wurde. Ihr müsst verstehen, dass ein Mann andere Pflichten als die seines Ehestandes zu erfüllen hat, wenn er die Ehre seiner Vorfahren makellos bewahren will.«
Martí schwieg ein paar Minuten.
»Verzeiht, aber in meinem Innern streiten viele widersprüchliche Gedanken miteinander.«
Der Geistliche erhob sich von seinem Sitz und sprach weiter.
»Bald werdet Ihr Eure Zweifel überwinden. Ich möchte Euch das Pergament geben, das ich in all diesen Jahren verwahrt habe. Wenn es Euch lieber ist, lasse ich Euch allein, damit Ihr es in Ruhe lesen könnt. Sobald Ihr fertig seid, meldet Euch mit dem Glöckchen, das auf meinem Tisch steht, und dann holt mich mein Sekretär.«
Der Mann Gottes ging zu einem Kästchen, das auf einem Schrankbrett versteckt stand. Ins Schloss des Kästchens steckte er einen Schlüssel, den er aus der tiefen Tasche seines Leibrocks zog. Er schob den Eisenriegel zurück und öffnete das Kästchen. Dann suchte er in den Dokumenten, die darin lagen, und nahm schließlich ein Pergament, das im Lauf der Zeit vergilbt war, und einen kleinen Schlüssel. Er schloss den Kästchendeckel wieder und legte beides auf den Tisch, vor den jungen Mann.
»Nehmt Euch so viel Zeit, wie Ihr braucht. Eile ist nicht nötig. Ich bin in der Bibliothek, ich muss vieles erledigen, was ich hinausgeschoben habe. Lasst mich also rufen, wenn Ihr fertig seid.«
Der Geistliche entfernte sich. Seine Schritte waren viel leiser, als man es von einem so korpulenten Mann erwartet hätte. Martí blieb allein, um sich mit den Fragen aus seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Er wusste noch nicht, dass sie sich entscheidend auf seine Zukunft auswirken sollten.
7
Die
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