Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
raste. »Reicht mir das Schreiben, dein Herr soll alsbald eine Antwort bekommen.«
Der Bote rollte es flink wieder zusammen und streckte es dem Grafen entgegen.
Dieser konnte es aufgrund seiner Blindheit zwar nicht sehen, aber er konnte es links von sich leicht knistern hören. Das genügte. Ohne weiter zu überlegen, griff er mit seiner rechten Hand nach seinem Schwert an seiner linken Seite, zog es mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Scheide, vollführte dabei eine komplette Linksdrehung, hob seinen Schwertarm hoch über seinen Kopf und ließ die Klinge dann herabfallen.
Der Arm des Boten bedeutete so gut wie keinen Widerstand für das scharfe Schwert. Er fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden – das Pergament noch mit der Hand umklammert. Erst dann begann der Mann, aus dessen Armstumpf sofort ein Strahl Blut schoss, schrill zu schreien.
Marquardus konnte gerade noch zurückweichen, bevor das Blut ihn traf. Angeekelt blickte er auf den abgetrennten Körperteil. Wahrlich, sein Herr war erbarmungslos.
Gerhard II. hingegen wurde nun wieder ruhiger. Er war überaus zufrieden mit seinem Hieb. Genauso hatte er es gewollt. Zu schade nur, dass er sich an dem Anblick des verstümmelten Boten nicht laben konnte. »Schickt meinem Vetter und dem Propst dies als Antwort«, befahl er und kickte gegen den Arm. »Und schafft auch den Rest dieses Mannes hier raus.«
6
»Was wollt ihr?«, fragte der grimmig dreinschauende Wachmann, der sich zusammen mit ein paar Rittern am Tor aufhielt.
Die mehrwällige Burg Stotel war für Kuno, Johannes und Everard weder zu übersehen gewesen, noch war die Frage nach ihrem Begehr überraschend. Und trotzdem sorgten die Worte des Wachhabenden bei den drei Reisenden zunächst für fragende Blicke untereinander. Wie sollten sie sich erklären, ohne Misstrauen zu erwecken? Schließlich war ihr Anliegen äußerst heikel; es war unmöglich, diesen Männern die Wahrheit zu sagen. Zudem war keineswegs klar, ob der Graf sie – wusste er erst einmal, was sie wollten – freundlich aufnehmen oder eher von der Burgmauer würde werfen lassen.
Schließlich trat Vater Everard mutig vor. Eines war klar: Bescheidenheit würde nicht zum Ziel führen, darum behauptete er mit fester Stimme und geschwollener Brust: »Ich bin ein Freund der Grafen von Stotel, und ich habe wichtige Kunde für Graf Johannes I., die nur ihn selbst etwas angeht. Ich kann dir den Grund meines Besuchs also nicht sagen.«
Der Wachmann trat näher an Everard heran und musterte ihn von oben bis unten. Dann spuckte er zur Seite hin aus. »Eine kühne Behauptung, Vater«, sagte er mit abfälligem Unterton. »Mir ist nicht bekannt, dass der Graf mit einem verlotterten Geistlichen befreundet wäre.«
»Und mir ist nicht bekannt, dass ein einfacher Wachmann des Grafen all dessen Freunde kennt«, konterte Everard geschickt. Er hatte keine andere Wahl, als überzeugend aufzutreten, auch wenn seine Knie zitterten, und er ging sogar noch weiter. »Solltest du mich jetzt weiterhin aufhalten, wirst du es vielleicht noch bereuen. Mein Anliegen duldet keinen Aufschub.«
Die Männer starrten einander an. Doch schlussendlich sorgten wohl jene kühnen Worte, zusammen mit dem starren Blick, für Erfolg. Man führte die drei ins Burginnere und ließ sie noch am selben Tag zum Grafen vor.
Hier knieten sie nun, die Köpfe gesenkt, mit bangen Herzen und trockenen Mündern.
»Wer von euch ist der, der behauptet, ein Freund der Grafen von Stotel zu sein?«
»Das bin ich, Herr!«, erwiderte Everard.
»Erhebe dich, und tritt näher«, forderte der Fürst.
Der Angesprochene tat, wie ihm aufgetragen worden war und versuchte, sich so zu verhalten, dass es den Grafen nicht verärgerte, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man das tat. In jenem Augenblick fiel ihm auf, was niemand auf der Welt hätte leugnen können: Der Graf hatte wirklich große Ähnlichkeit mit Walther!
»Ich kenne Euch nicht! Sollte man seine Freunde nicht kennen?«
»Das ist wahr, Herr, Ihr kennt mich nicht, aber …«
»Also habt Ihr gelogen?«
Everard begann zu schwitzen. »Nein, das habe ich nicht.«
Graf Johannes I. von Stotel zog die Augenbrauen hoch. Mit einiger Ungeduld und nicht zu überhörendem Spott sagte er: »Nun, Freund der Grafen von Stotel. Lasst Euren beherzten Worten lieber rasch eine Erklärung folgen. Ich hoffe, die Kunde, die Ihr für mich habt, ist es wert, meine Zeit dafür zu stehlen.« Dann beugte er sich vor, blickte dem Geistlichen tief in die Augen
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