Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Folterkammer!
»Schafft ihn möglichst unauffällig in meine Kurie, Heinrich!«, raunte der Scholastikus dem Kantor zu. »Und lasst die Krypta säubern, bevor noch mehr Leute etwas von dieser Schweinerei mitbekommen.«
Nur ungefähr eine Stunde später saß Johannes von Hamme in der kleinsten Kammer seiner Kurie auf einem hölzernen Schemel. Stumm betrachtete er die zwei Beginen von seiner Ecke aus, die Ehlers blutigen Rücken versorgten. Der Domherr war noch nicht erwacht, was sehr wahrscheinlich auch besser für ihn war.
»Die Wunden sind tief«, bemerkte eine der Beginen namens Kethe, während sie sich über das zerrissene Fleisch beugte und behutsam eine Paste auftrug. »Ich denke, der Domherr wird einige Zeit lang brauchen, bis er wieder genesen ist.«
Johannes schüttelte kaum merklich den Kopf, erwiderte aber nichts auf die Worte der Frau. Er hätte auch gar nicht gewusst, was er hätte sagen sollen. In ihm war nur Unverständnis. So tief sein eigener Glaube auch in ihm verwurzelt war, der Drang zur Selbstgeißelung fehlte ihm gänzlich. Nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren stellte er fest, dass der Zwanzigjährige bereit war, für seine Überzeugung weit zu gehen – sogar weiter als er selbst! Diese Willensstärke war es gewesen, die Johannes von Hamme auf ihn aufmerksam gemacht hatte – und genau diese Willensstärke trieb ihn nun von ihm fort. Johannes hatte das Gefühl, dass Ehler außer Kontrolle geriet, und das durfte nicht passieren. Er war es, der die Entscheidungen traf und über Ehler verfügte, nur so konnte es funktionieren. Einen eigenmächtig handelnden Mann an seiner Seite, der nicht zu steuern war, konnte er nicht gebrauchen.
»Wir sind fertig, Scholastikus.«
Johannes wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Habt Dank, werte Schwestern!«
»Wenn es recht ist, kommen wir morgen wieder, um nach dem Domherrn zu sehen.«
»Ja, das wäre gut.«
»Sollte er vorher etwas benötigen, schickt einen Diener zum Konventshaus.«
»Ich bin mir sicher, das wird nicht nötig sein. Morgen ist früh genug«, ließ Johannes die Beginen wissen und erhob sich, um sie zur Tür zu geleiten. Dort nickte er ihnen noch ein letztes Mal zu und sagte: »Gottes reichen Segen für Euch.«
»Und Euch das Gleiche, Magister. Bis morgen.«
Johannes stand noch eine Weile lang an der Tür und starrte den Beginen hinterher, wie sie die Straße entlangliefen. Er konnte nicht leugnen, dass ihn der Vorfall sehr beschäftigte. Als sie hinter der Petrikirche verschwanden, die sich direkt vor seiner Kurie befand, wanderte sein Blick hinauf zur schräg gegenüberliegenden Kurie. Es war jene von Johann Schinkel. Im oberen Stockwerk wurde ein Fenster geöffnet, und er erkannte das Gesicht von Thymmo.
Als der Fünfzehnjährige den Scholastikus entdeckte, hob er den Arm zum Gruß.
Von Hamme nickte zurück. Er hatte schon gehört, dass der Rat Thymmo als Schreiber Johann Schinkels akzeptiert hatte, und diese Begebenheit war auch nicht verwunderlich. Der Junge war klug, fleißig, folgsam und bei weitem nicht so starrsinnig wie Ehler. Es kam dem Magister selbst komisch vor, doch in ihm regte sich fast ein Gefühl der Eifersucht. Johann Schinkel konnte zufrieden sein, er hatte das bessere Mündel. Und er? So viel Zeit und so viel Mühe hatte er für die Ausformung Ehlers geopfert, und was dafür bekommen? Unwillkürlich stieg das Bild des zerschundenen Rückens des jungen Domherrn in ihm auf. Johannes ließ die Düsternis seiner Gedanken aber nicht weiter zu und ging wieder in seine Kurie. Er wollte noch einmal nach dem Verletzten sehen.
3
Unliebsam drang das Läuten an ihr Ohr. Sie wollte noch nicht aufstehen, aber sie musste. Als Erstes blickte Tybbe auf die Innenseiten ihrer Hände. Unter ihren Fingern hatten sich gestern schmerzende, blutige Blasen gebildet, die über Nacht aufgegangen waren. Vorsichtig berührte sie die hart gewordene Haut und verzog das Gesicht. Damit würde sie wohl eine Zeit lang nicht mehr fest zupacken können.
Langsam erhob sie sich aus ihrer Bettstatt und streckte sich. Fast wollte es ihr nicht gelingen, ihre Arme zu heben, so sehr schmerzten sie. Bis zum späten Abend hatte sie gestern noch die Steine der klösterlichen Gänge geschrubbt, jetzt war es erst zwei Stunden nach Mitternacht – wenn sie sich nun nicht von ihrem Ungehorsam Mutter Heseke gegenüber reingewaschen hatte, dann wusste sie auch nicht mehr, was sie noch tun sollte, dachte sie bitter.
Mit steifen Bewegungen trat Tybbe auf
Weitere Kostenlose Bücher