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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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die Gänge zu den anderen Chorschülern und Chorjungfrauen des Konvents. Sie alle hatten die Köpfe gesenkt und schwiegen. Es durfte seit dem Nachtgebet, dem Komplet, sowieso keiner sprechen, und außerdem waren sie alle noch müde. Jetzt, in der Fastenzeit vor Ostern, waren die Regeln im Kloster strenger als sonst, was bedeutete, dass die nächtliche Gebetszeit der Vigil nicht nur früher, sondern auch fast doppelt so lang war. Nach dem Gottesdienst würde Tybbe Psalmen einüben müssen, was sie nicht besonders mochte. Bei Tagesanbruch dann läutete es zur Prim und zur Laudes, dem Morgenlob. Im Laufe des Tages würde sie ihre Arbeit noch drei weitere Mal für die kleineren Horen, Terz, Sext und Non unterbrechen, bis die Vesper und das Komplet schließlich ihren Tag beendeten.
    Manches Mal fiel es ihr schwer, die stundenlangen Gottesdienste mit der geforderten Freude zu begehen – besonders wenn sie so wenig Schlaf bekam wie diese Nacht –, doch trotz aller Müdigkeit war heute ein Tag der Freude. Denn sie würde endlich Zeit in dem von ihr so geliebten Garten verbringen; das hatte sie sich redlich verdient. Mit ein wenig Stolz schaute Tybbe den Boden unter sich an. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht. Der Propst würde zufrieden mit ihr sein.
    Die Frauen und Mädchen erreichten die Klosterkirche. Paarweise schritten sie auf den Altar zu, wo sie die Knie beugten. Schließlich verneigten sie sich noch einander zugewandt und begaben sich auf ihre Plätze im Chorgestühl. Es folgte dreimal der gesungene Vers: »Herr öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.« Daraufhin gab es einige Psalmen, Hymnen und Lesungen.
    Die Vigil erschien Tybbe heute endlos. Immer wieder musste sie sich ermahnen, nicht mit weit geöffnetem Mund zu gähnen. Erst die von ihr so geliebten Wechselgesänge vertrieben ihre Schläfrigkeit. Der Rest des Morgens ging dann überraschend schnell vorbei. Als auch die Laudes vorüber war, versammelten sich alle Frauen und der Propst im Refektorium, wo das morgendliche Mahl eingenommen wurde. Sie alle saßen an einem langen Tisch. Jede hatte ihren festen Platz.
    Dummerweise konnte Tybbe von ihrem Platz aus das zornige Gesicht Hesekes sehen, die wohl schon darüber informiert worden war, dass ihre Schülerin ab heute im Garten aushelfen durfte. Sie war sich sicher, dass sie diesen Sieg noch in irgendeiner Weise würde büßen müssen.
    Nach dem Mahl kam Sibilla auf Tybbe zu. »Ich habe gehört, du gehst mir ab heute zur Hand? Wie schön. Ich kann Hilfe brauchen. Lass uns gleich gehen.«
    »Einverstanden«, antwortete Tybbe und folgte der stets gut gelaunten Chorjungfrau.
    Sibilla war siebzehn und hatte das Gelübde erst vor drei Jahren abgelegt. Tybbe konnte sich noch gut an den Tag erinnern, alle im Kloster hatten sich mit ihr gefreut. Sie war beliebt, da ihr Wesen so angenehm und freundlich war. Anders als manch andere Schwester sah sie viele der klösterlichen Regeln nicht so eng, was dazu führte, dass die jungen Chorschülerinnen sich am liebsten mit ihr umgaben – so wie Tybbe.
    »Fangen wir mit dem Laub an, ja? Es hätte schon längst entfernt werden müssen. Wenn das jetzt nicht geschieht, dann sterben die zarten Pflanzentriebe wieder.«
    Gemeinsam trugen sie Korb für Korb voll mit Laub in eine dafür vorgesehene Ecke, bis dort ein großer Haufen lag.
    Tybbes schmerzenden Armen schien die Arbeit gutzutun, und auch dem Rest ihres Körpers. Immer wieder atmete sie tief durch, um die frische Märzluft und den Duft der Blätter in sich aufzunehmen, die sie so eifrig zusammensuchte. Gerade wollte sie zurück zu Sibilla gehen, die eben noch im Beet gekniet und mit den Händen unter den stacheligen Büschen der Brombeeren nach Laub gefischt hatte, als sie ihre Rufe vernahm.
    »Tybbe, Tybbe, kannst du mir hier einmal helfen? Ich hänge fest …«
    Sofort eilte sie zu der jungen Frau. Ihr Schleier und ihr Rock hatten sich in den Dornen verfangen, und jeder Versuch, den Leinenstoff freizubekommen, schien es nur noch schlimmer zu machen. Bald schon verfing sie sich an so vielen weiteren Stellen, dass Tybbe gar nicht mehr wusste, wo sie anfangen sollte.
    »Wie hast du denn das angestellt?«, fragte sie lachend. »Ich war doch nur kurz fort. In dieser Zeit kann sich doch niemand derart im Gebüsch verfangen – es sei denn, man wirft sich hinein.«
    Jetzt lachte auch Sibilla. »Das habe ich sicher nicht getan.« Danach rührte sie sich nicht mehr, um weiteren Schaden an ihrem Gewand zu vermeiden.

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