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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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»Versuch zunächst meinen Schleier freizubekommen, Tybbe. Ich glaube, wenn du dort anfängst, kann ich mich oben herum wenigstens so weit bewegen, dass ich dir am Rock helfen kann.«
    »Ich versuch’s.«
    Es dauerte nicht lang, da war auch Tybbes Gewand fest in dem Gebüsch verhakt. »Mein Ärmel hängt fest. O nein, und mein Rock auch. Ich glaube, der Busch hat es auf uns abgesehen.«
    »Das hast du nun von deinen Reden«, neckte Sibilla Tybbe.
    »So bekommen wir den Garten nicht fertig.«
    Dann hörten sie ein reißendes Geräusch. Sibillas Rock hatte einen handlangen Riss. Doch statt sich zu ärgern und zu schimpfen, begannen beide herzlich zu lachen. Während sie vergeblich versuchten, sich weiter zu befreien, wurde ihr Lachen immer ungezügelter und ihre Späße immer alberner.
    »Ich glaube, wir müssen den nächsten Gottesdienst in den Garten verlegen«, scherzte Sibilla.
    »Ich hoffe nur, dass wir zum Komplet wieder frei sind, denn es wird mir nicht gelingen, den Mund zu halten, bei so viel Lachen.«
    Keine der Frauen hatte bemerkt, dass sich ihnen jemand näherte. Ohne ein Wort trat der Mann an sie heran. Er zückte ein Messer, das im Sonnenlicht blitzte. Erst im letzten Augenblick sahen sie es und begannen zu schreien.
    Drei-, viermal musste der Fremde das Messer ansetzen, dann griff er in die Dornen, als könnten sie ihm nichts anhaben. Sie waren frei.
    Tybbe starrte den Mann an, als wäre er nicht aus Fleisch und Blut.
    Sibilla war die Erste, die sprach. »Was tust du hier, und wer bist du?«
    »Sehr gern geschehen«, sagte er etwas spöttisch und fügte hinzu: »Der Propst hat mich beauftragt, das eingestürzte Stück der Mauer zu erneuern. Da habe ich euer Wehklagen gehört, meine Damen.«
    »Hab Dank«, sagte Tybbe jetzt. »Wie ist dein Name?«
    Sibilla schaute etwas entrüstet zu der Chorschülerin, die den Mann seltsam musterte. Kein Wunder, außer den Propst bekam das Mädchen ja nie einen Mann zu Gesichte.
    »Bentz. Eigentlich arbeite ich beim Müller.«
    »Auch ich bedanke mich bei dir, Bentz«, sprach Sibilla jetzt und drängte sich an der stocksteifen Tybbe vorbei. So freundlich und dennoch bestimmt wie es ihr möglich war, schob sie den Müllersgehilfen wieder in Richtung des Mauerlochs. »Nun sollte besser jeder wieder dorthin gehen, wo er hergekommen ist. Männlicher Besuch gehört nicht gerade zum täglichen Einerlei einer Klosterfrau, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Sicher, sicher«, sagte Bentz, der natürlich sofort verstand, dass er im Klostergarten nichts zu suchen hatte, und stieg wieder durch das schmale Loch zwischen den zwei entfernten Palisadenbrettern hindurch.
    »Hab einen angenehmen Tag, Bentz von der Mühle. Gottes Segen und gutes Gelingen bei der Arbeit«, schloss die Chorjungfrau und widmete sich wieder Tybbe und ihrer gemeinsamen Arbeit.
    Die darauffolgenden Tage waren die beiden Frauen täglich im Garten, und täglich sahen sie Bentz, der immer freundlich aber zurückhaltend blieb.
    Tybbe versuchte, es nicht so auffällig aussehen zu lassen, dass sie sich stets einen Arbeitsplatz im Garten dicht bei dem Mann suchte, der die Mauer erneuerte. Sibilla war so lieb, sie gewähren zu lassen, auch wenn sie stets ein Auge auf die Jüngere hatte und darauf acht gab, dass jeder auf seiner Seite der Mauer verblieb. Die Chorschülerin war ihr dankbar dafür – jedoch im Stillen. Keiner der beiden nannte ihr unausgesprochenes Abkommen beim Namen.
    Es war nicht so, dass Tybbe unkeusche Gedanken hegte, bloß ihre Neugier war geweckt. Sie wollte dem gleichbleibenden Klosteralltag ein wenig Abwechslung verschaffen und einfach etwas unterhalten werden, solange das noch möglich war. Bald schon würde das Loch in der Mauer wieder verschlossen sein, und dann war es ungewiss, wann sie den nächsten Menschen in ihrem Leben zu Gesicht bekam, der nicht zum Konvent gehörte.
    Immer wieder hatten sie und Bentz in den vergangenen Tagen ein paar Worte gewechselt, und auch jetzt wagte Tybbe wieder eine Frage.
    »Erzähle mir, wie ist es in Buxtehude? Ist es ein großes Dorf? Gibt es dort viele Menschen und viele Häuser?«
    »Warst du etwa noch niemals dort?«
    »Nein.«
    »Du verlässt das Kloster nie?«
    »Nein, nicht seit ich als kleines Mädchen herkam.«
    »Nun, wie erkläre ich es? Buxtehude ist kein Dorf mehr, sondern schon seit sechsundzwanzig Jahren eine Stadt. Der Erzbischof Giselbert von Brunkhorst hat sie gegründet, und die Edelleute und Brüder Heinrich und Gerlach von der Lühe

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