Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
andere Männer um mich herum schon längst erkannt haben. Aber du scheinst ja auf den Augen blind und den Ohren taub zu sein. Oder du bist im Herzen schon ein Domherr, der sich jeder Fleischeslust entsagt und Gott allein verschrieben hat? Was soll’s, sei es drum, dann lasse ich mich eben von einem anderen Mann küssen!«
Thymmos Mund wurde trocken. Hatte er richtig gehört? Der alleinige Gedanke daran, dass ein anderer Kerl auf jene bestimmte Weise auch nur in Bekes Nähe kam, schnürte ihm fast die Luft ab.
Sie hatte ihr Gesicht abgewandt und trotzig die Arme vor der Brust verschränkt. Dennoch blieb sie sitzen.
Langsam hob Thymmo eine seiner ewig tintenbeklecksten Hände hoch zu ihrem Gesicht.
In diesem Moment sprang die Tür auf. Johann Schinkel trat, von seiner Krankheit gezeichnet und dennoch wütend, in die Kammer. Fassungslos blickte er auf Beke und seinen Sohn. »Was ist hier los?«
Thymmo ließ erschrocken seine Hand sinken und starrte zur Tür.
»Habt ihr beide die Sprache verloren?«
Keiner gab Antwort.
Der Ratsnotar wandte sich an Beke. »Verschwinde aus der Kammer, Mädchen, bevor ich mich vergesse! In nächster Zeit wirst du dich Thymmo nicht mehr ohne Gesellschaft nähern. Hast du verstanden? Und wenn du das missachtest, werden deine Eltern hiervon erfahren, dafür sorge ich dann höchstselbst!«
Beke schossen die Tränen in die Augen. Wortlos und mit schamrotem gesenktem Haupt stürmte sie an ihrem Herrn vorbei. Noch bevor sie hinaus war, hörte sie die Worte: »Und später werde ich dir die Beichte abnehmen!«
»Dazu hattet Ihr kein Recht!«, begehrte Thymmo wütend auf und schritt auf den Ratsnotar zu.
Dieser zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn und ließ ihn wissen: »Sag du mir gefälligst nicht, was meine Rechte sind. Solange du hier in meiner Kurie wohnst, wirst du unsere Dienerstochter ganz sicher nicht zu deiner Hure machen.«
»Sie ist keine Hure!«
»Ja, noch nicht! Aber so wie es gerade aussah, fehlt nicht mehr viel dazu.«
Thymmo bebte vor Wut. Nie hatte er etwas so begehrt, wie eben noch Bekes Lippen, und nun kam der Ratsnotar, den er liebte und verehrte, und wollte ihm das nehmen.
»Du wirst ein Domherr! Hast du das etwa vergessen? Bedeuten dir all die Jahre, die du nun studiert hast, nichts mehr? Willst du all das aufgeben und dafür mit einer Dienstmagd zusammenliegen?«
Er schwieg. Natürlich bedeutete ihm seine Ausbildung etwas. Aber Beke bedeutete ihm nicht weniger.
»So habe ich dich nicht erzogen. Besinne dich wieder deiner eigentlichen Zukunft – du wirst alles haben können, und dafür musst du dieses eine Opfer bringen! Frauen bedeuten nicht nur Freude, sondern auch großes Leid. Sei lieber froh, dass dir das erspart bleiben wird.«
Thymmo blickte abschätzig nach unten und fragte sich das erste Mal, ob Johann Schinkel falsch lag. Dieser bemerkte die Geste sehr wohl.
»Sieh mich an. Ich bin das lebende Beispiel dafür, dass einzig und allein der Glaube zu Gott, das Licht und die Wahrheit dir die Befriedigung schenken werden, nach der dein sündiger Körper nun dürstet. Und jetzt geh wieder an die Arbeit!«
Der Angesprochene griff nach den Pergamentrollen auf dem Schreibpult und eilte an dem Ratsnotar vorbei, bevor dieser noch bemerkte, was er da unter dem Arm trug. Währenddessen stieß er wütend aus: »Was versteht Ihr denn schon von den Frauen und der Befriedigung des Fleisches? Gebt mir besser keine Ratschläge von Dingen, die Euch fremd sind.« Dann knallte er die Tür hinter sich zu.
Johann Schinkel schloss kurz die Augen. Die eben ausgesprochenen Worte waren für ihn eine Marter und eine Qual gewesen – und zudem noch eine Lüge! Er wusste am allerbesten, wie unverzichtbar sich die Liebe anfühlte, wenn sie erst einmal in einem ausgebrochen war. Noch immer konnte er fühlen, wie stark die Fleischeslust einen in die Sünde drängte. Er wollte seinen Sohn vor dieser inneren Zerrissenheit bewahren, die er all die Jahre hatte durchleiden müssen. Doch er sah es schon kommen: Er würde scheitern. Und sehr wahrscheinlich war es sein und Runas schwaches Blut, welches zu jenem Ergebnis führen würde.
Thymmo hastete die Stufen regelrecht hinunter und ließ die Kurie hinter sich. Seine Gedanken rasten, und sein Herz schlug wild. Nie zuvor hatte er sich so gefühlt. So glücklich und verzweifelt zugleich, dass er am liebsten zur selben Zeit gelacht und geweint hätte. Und noch nie war er so zornig auf Johann Schinkel gewesen! Konnte es tatsächlich sein,
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