Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
aus dem Rathaus mitgenommen. Seine Gegenwart fiel hier mittlerweile nicht mehr auf.
Beke wusste, dass er dabei stets Kopf und Kragen riskierte, doch ihr Drang zu lernen war einfach unbändig, und so war Thymmo gezwungen, immer neue lateinische Texte heranzuschaffen.
Gemeinsam beugten sie sich über die große Urkunde mit den hängenden Wachssigeln daran, von denen drei das Wappen der Schauenburger Grafen enthielten. Allein diese Siegel ließen sie wissen, wie wichtig diese Urkunde war, drum wagte sie kaum, sie anzufassen.
»Viris nobilibus, dominis suis, Gerardo, Adolfo & Hinrico, comitibus Holtsacie et de Scouuenborg, consules Hammenburgenses seruicium debitum & honorem. Cum consuetudinis …« Ihre Stimme erklang ohne jedes Stocken und Zögern. Zwar verstand Beke noch nicht jedes Wort, doch sie las dafür flüssig bis zum Ende. »… et sigilli nostre ciuiatis munimine roborari. Datum anno Domini MCC° nonagesimo tercio, octaua pasche.«
»Sehr gut, Beke. Wirklich! Ich bin ein ums andere Mal begeistert, wie groß deine Fortschritte sind. Du würdest einige der Domschüler blass aussehen lassen!«
»Danke, Thymmo! Für dein Lob und dafür, dass du Wort gehalten hast.«
»Ein Versprechen darf man nicht brechen, oder?«
Beke schenkte ihm ein warmes Lächeln.
»Und nun sag mir, was in der Urkunde steht. Hast du den Inhalt verstanden?«
Wieder beugte sich das Mädchen über die Zeilen, um noch einmal sicherzugehen, was sie glaubte verstanden zu haben. Dann richtete sie sich auf. Etwas unsicher fasste sie zusammen: »Ich glaube, es geht um die Verpachtung der Hamburger Münze.«
»Das ist richtig. Welche Personen werden in der Urkunde genannt?«
»Die Ratsherren von Hamburg und die Brüder Graf Gerhard II., Graf Adolf VI. und Graf Heinrich I.«
»Sehr gut! Und an welchem Datum ist die Urkunde erstellt worden?«
»Am fünften April im Jahre des Herrn 1293.«
»Ganz genau«, stimmte er ihr zu und begann, das Pergament vorsichtig aufzurollen«
»Hast du noch mehr mitgebracht?«, fragte das Mädchen wissbegierig.
»Ja, habe ich.« Thymmo holte eine zweite Rolle heraus und strich sie glatt. »Lies mir das vor.«
Beke nahm ihren rechten Zeigefinger und schwebte die Zeilen entlang, die sie las. Jene Urkunde trug noch mehr wächserne Siegel als die vorherige, was ihre Hand vor Ehrfurcht leicht zittern ließ. Unter anderen Umständen wäre ein einfaches Mädchen wie sie nicht einmal in die Nähe eines solchen Pergaments gekommen, und nun konnte sie diese auch noch lesen! Sie war sich dieser einmaligen Gelegenheit bewusst. »… Concedimus etiam et donamus eisdem ius tale, quod wlgo kore dicitur, statuta mandari …«
»Nein, es heißt mandare !«
»… mandare et edicta promulgare secundum …« Beke las den Rest fehlerfrei. An wenigen Stellen hatte sie langsam lesen müssen, um ein besonders schwieriges Wort richtig zu entziffern, doch als sie mit der Nennung der damals gegenwärtigen fünfzehn Männer geendet hatte, von denen einer wichtiger und bekannter war als der andere, blickte sie Thymmo siegessicher an. »Ich weiß, worum es geht!«
»Dann sag es mir.«
»Das ist die Urkunde, in der die fünf Grafen von Schauenburg Hamburg das Recht der freien Kore verleihen.«
»Wieder richtig! Es ist beeindruckend, wie gut du schon verstehst. Ich sage dir, wenn du als Mann geboren worden wärest, dann hättest du einen hervorragenden Schriftgelehrten abgegeben. Vielleicht hätten wir dann die Schreibarbeiten des Ratsnotars gemeinsam erledigen können. Zu schade nur, dass du als Weib mit deinem Können niemals etwas wirst anfangen können.«
Beke ließ sich nicht anmerken, dass Thymmos Worte sie tief trafen. War es das, was er in ihr sah? Die schlechtere Ausgabe eines Mannes? Bereute er wirklich, dass sie nur ein Weib war? Trotzig sagte sie: »Nun, vielleicht kannst du es dir nicht vorstellen, aber ich bin sehr gerne eine Frau! Eines Tages werde ich heiraten und Kinder bekommen, und ich werde lieben – was dir für immer verwehrt bleiben wird!«
Verwirrt blickte Thymmo zu seiner Schülerin. »Warum sagst du so etwas? Habe ich dich gekränkt?«
»Das kannst du gar nicht!«
»Was … was ist los?«, fragte Thymmo die grimmig dreinblickende Beke. Tatsächlich war er völlig ahnungslos.
»Ach, nichts ist los. Außer, dass du dir offensichtlich wünschst, ich sei ein Mann. Ich hingegen wünsche mir nicht, dass du eine Frau wärst, Thymmo von Holdenstede. Ich wünsche mir bloß, dass du erkennen würdest, was
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