Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
dass der Ratsnotar ihm seine Liebschaft nicht gönnte, da es ihm selbst ein Leben lang verwehrt geblieben war zu lieben? Oder war er wirklich so selbstsüchtig, dass er Thymmo nicht mit Beke teilen wollte? Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zusammenzureißen und seinen Zorn herunterzuschlucken, als er das Rathaus erblickte, wo er die heimlich entwendeten Urkunden zurücklegen wollte. Es war schon später Nachmittag, und sehr wahrscheinlich würde er um diese Zeit niemanden mehr dort antreffen, was ihm natürlich sehr recht war. Ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen trat er über die Schwelle des prächtigen Gebäudes. Wenig später befand er sich in der Kammer, in der die Stadtkiste und einige Holzregale mit unzähligen Pergamentrollen lagerten.
Thymmo sah sich noch einmal um. Dann trat er auf die Kiste zu und nahm den Schlüssel Johann Schinkels aus seiner Tasche. Geschickt öffnete er die drei Schlösser und hob den schweren Deckel an. Vorsichtig legte er beide Urkunden wieder an ihren ursprünglichen Platz. Ein letzter Blick auf die Rollen bestätigte, dass alles aussah wie vorher. Erst jetzt konnte er wieder durchatmen. Geschwind verschloss er die Kiste und erhob sich. Nun würde er das Rathaus einfach wieder unauffällig verlassen, und keiner würde je bemerken, dass die Urkunden auf einer kleinen Reise gewesen waren.
Thymmo drehte sich um und machte einen beherzten Schritt. Doch statt aus der geöffneten Tür zu schauen, blickte er zu seinem grenzenlosen Entsetzen direkt in die Augen des Scholastikus’. Gerade eben konnte er einen Aufschrei verhindern.
»Wohin des Weges, Thymmo?«, fragte der Magister mit erstaunter Miene.
»Ich? Ich wollte gerade … ich habe mich wohl in der Tür geirrt«, log er ungeschickt und kam sich lächerlich dabei vor.
»So? Nun ja, das Rathaus ist auch ganz schön groß, und so lange bist du ja auch noch nicht im Amt als des Ratsnotars Schreiber.«
»Richtig. Ich muss mich noch etwas zurechtfinden. Das ist alles.«
»Das wird schon noch.«
Thymmo schluckte schwer. Hatte der Magister tatsächlich nichts bemerkt? Wollte er jetzt mit ihm plaudern?
»Und? Bist du zufrieden mit deiner Aufgabe?«
»Nun, wie könnte ich das nicht sein? Die Arbeit für den Ratsnotar ist eine Ehre.«
»Wie wahr.«
Kaum wagte er zu atmen. Thymmo fühlte sich so unwohl, dass er sich am liebsten einfach verabschiedet hätte und gegangen wäre, doch der Scholastikus versperrte den Weg nach draußen.
»Du scheinst deine Sache ziemlich gut zu machen. Man hört nur Lob über dich.«
»Ist das so? Das … freut mich sehr. Ich will mich bemühen, alle Erwartungen der mir Wohlgesinnten weiterhin zu erfüllen.«
»Und was erhoffst du dir davon?«
Thymmo legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht, was Ihr meint!«
»Hast du dich je gefragt, ob deine Bemühungen schlussendlich auch zum Ziel führen werden? Bist du da, wo du bist, gut aufgehoben?«
»Ihr meint, bei Johann Schinkel?«
»Möglicherweise …«
»Natürlich bin ich das! Wo sonst gäbe es für mich bessere Aussichten?«
»Bessere Aussichten? Also wenn ich das aus meiner Sicht betrachte, sind deine Aussichten nicht so blühend, wie sie dir vielleicht erscheinen. Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, dass andere Männer dir vielleicht mehr bieten könnten?«
»Mehr? Was wollt Ihr mir damit sagen?«
»Heute bist du zwar des Ratsnotars Schreiber – ein bedeutender Anfang in der Tat –, aber wie viel gilt diese Stellung schon in der Zukunft? Wohin führt sie dich? Johann Schinkel wird nicht ewig leben, doch du wirst nicht sein Nachfolger werden. Dazu bist du zu jung und zu unerfahren.«
»Ich werde älter, und ich lerne dazu …«
»Sei nicht dumm, Junge!«, stieß der Schulmeister aus.
»Wer sagt Euch, dass ich dieses Amt anstrebe?«, gab Thymmo nun in schärferem Ton zurück.
»Alles andere wäre verwunderlich, oder nicht? Beantworte mir eine Frage: Hat der Ratsnotar dir davon erzählt, wie er selbst zum Nachfolger Jordan von Boizenburgs wurde?«
Augenblicklich kam ihm die entsprechende Unterhaltung in den Sinn. »Natürlich hat er das.«
»Und warum hat er das getan? Er wollte dich glauben lassen, dass es bei dir ähnlich laufen könnte. Und lass mich raten – seither tust du deine Aufgaben noch eifriger!«
Jetzt erwiderte Thymmo nichts.
»Ich sage dir, du liegst falsch. Nach seinem Ableben werden andere Männer, fähigere Männer, ältere Männer, seine Aufgabe übernehmen. Und du? Du bist noch nicht einmal ein Domherr,
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