Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
kurz auf. »Damals habe ich noch gedacht, dass Thymmo mir eines Tages nachfolgen wird, und zwar mit Freuden, doch vielleicht habe ich mich geirrt.«
»Was soll das heißen? Thymmo ist doch auf dem besten Wege, ein Domherr zu werden …«
»Der Meinung war ich eigentlich auch, doch zwischen uns herrscht Uneinigkeit in diesem Punkt. Vielleicht habe ich es mir so sehr gewünscht, dass ich ihn nicht mehr hören konnte. Vielleicht will Thymmo kein Domherr werden.«
»Das ist doch Unsinn«, sprach Werner fest überzeugt. »Sein halbes Leben lang bereitet er sich schon darauf vor …«
»Das stimmt, doch nun scheint sein früherer Feuereifer für die Schreiberei und all sein Wille sich gegen mich zu richten. Ich komme nicht mehr an ihn heran.«
Werner trat näher. Er nahm seinem Herrn das Lindenblatt aus der Hand und sprach: »Thymmo wird ein Domherr werden, so, wie Ihr es ihm vorgelebt habt!« Dann hob er das Blatt nach oben zwischen ihre Gesichter und sagte: »Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ihr selbst habt diesen Bibelvers gern in der Vergangenheit gebraucht, nun gebe ich ihn an Euch zurück.« Eindringlich und vertrauenswürdig in einem, schaute er seinen Herrn an.
Der Ratsnotar erschrak. Werners Blick und jener Bibelvers ließen keinen Zweifel: Der Diener wusste um sein Geheimnis!
Dann, fast so, als hätte er nichts weiter von Bedeutung gesagt, gab Werner Johann das Lindenblatt zurück und ließ ihn wissen: »Ich werde gleich zu Dagmarus Nannonis gehen, um den Wein zu holen, den Ihr für heute haben wolltet.«
»Wein …?«
»Ja, Herr. Ich sollte einen Malvasier besorgen, damit Ihr dem Erzbischof einen angemessenen Trunk anbieten könnt, wenn er Euch nach der Weihe in Eurer Kurie besucht.«
»Richtig, der Erzbischof! Großer Gott, wo habe ich nur meinen Kopf zurzeit?«
»Dafür habt Ihr ja mich.«
Johann nickte und wusste Werners Dienste in jenem Augenblick sehr zu schätzen.
»Wäre es Euch recht, wenn ich alle weiteren Pflichten auf den morgigen Tag verschiebe? Ich würde gern das Grab meiner Tochter aufsuchen, an einem christlichen Festtag wie heute.«
Jene Bitte hatte der Ratsnotar lange nicht mehr gehört. Sie erinnerte ihn schmerzlich an den Tod der kleinen Tybbe, Bekes Zwillingsschwester, die wie viele andere Hamburger den Angriff auf die Stadt damals nicht überlebt hatte. »Aber ja doch, natürlich kannst du gehen«, versicherte Johann. »Und bitte nimm auch Anna und Beke mit dir. Ich werde heute ohne eure Dienste auskommen.«
Darauf verneigte sich Werner kurz und verschwand aus dem Garten.
Als Johann Schinkel wieder allein war, begann er plötzlich einseitig zu grinsen. Was für ein gerissenes Schlitzohr sein Diener doch war! Er hatte es gewusst – all die Jahre – und doch nichts gesagt!
In diesem Moment schaffte es ein schmales Stück der Sonne erstmals über die Dächer und schien auf den Ratsnotar herab, als wollte sie ihm Trost spenden. Johann reckte sein Gesicht mit geschlossenen Augen dem Licht entgegen und wurde innerlich ruhiger. Wenn es stimmte, was der Bibelvers besagte, dann war jede Sorge unbegründet. Thymmo war schließlich auch ein Teil von Runa, und auch heute noch war Johann sich ihrer reinen Seele sicher. Auch wenn sie beide eine schreckliche Sünde begangen hatten, wollte alles in ihm sich weigern zu glauben, dass es tatsächlich etwas Schlechtes sein konnte, so zu lieben, wie sie sich geliebt hatten.
Noch einmal verschlug es ihn gedanklich in das kleine Haus, welches bis zum großen Brand vor sechzehn Jahren ihre Zufluchtsstätte gewesen war. Ihre Geschichte hatte dort seinen Anfang genommen; was hatte er die junge Begine doch begehrt! So sehr, dass aller Anstand und jede Sitte für ihn unwichtig geworden waren und er sie sogar auf offener Straße angesprochen hatte. Kurze Zeit später war es zu ihren Treffen in dem windschiefen Häuschen gekommen. Hier redeten sie das erste Mal, hier stritten sie das erste Mal, und hier liebten sie einander das erste Mal! Diese Tage waren lange vorbei. Dennoch, Johann empfand es als sein größtes Glück, einmal im Leben eine solche Liebe empfunden zu haben – selbst wenn sie das ewige Fegefeuer bedeuten sollte, er würde sich immer wieder genauso entscheiden.
Die schönen Erinnerungen hatten auf ihn eine heilende Wirkung. Es funktionierte immer wieder. Und auch jetzt fühlte er sich wieder kraftvoll genug, um sich weiterhin seinen Aufgaben zu widmen. Ein guter
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