Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
zu setzen und dem Ratsnotar zuzuhören, doch das war es nicht, was Johann wollte.
So konnte es nicht weitergehen. Um besser nachdenken zu können, war der Ratsnotar noch vor Aufgang der Sonne in seinen Garten gegangen. Hier schlenderte er nun im schummrigen Licht umher und flüchtete sich in Erinnerungen an bessere Zeiten.
Wie oft hatte er Thymmo heimlich hier beobachtet, während er seine geliebten Blätter gesammelt hatte, die dann unzählige Male zwischen den Seiten seiner kostbaren Bücher aufgetaucht waren. Mittlerweile war der Junge groß und sammelte keine Blätter mehr; der Ratsnotar dachte nicht zum ersten Mal, dass er die Blätter zwischen seinen Seiten vermisste.
Gedankenverloren hob Johann seine Hand und zupfte eines der rundlichen Lindenblätter von einem Ast. Er hielt es am Stiel und betrachtete die Maserung, während er es in seinen Fingern drehte. Ja, jene Zeiten waren lange her, und nun hatten er und Thymmo ihren ersten richtigen Streit.
Noch immer konnte sich Johann nicht so recht erklären, woher sein Sohn die Geschichte von der damaligen Kinderbischofswahl erfahren hatte. Zwar war es der Scholastikus selbst gewesen, der die Wahl damals beeinflusst hatte, und somit war dieser für Johann auch verdächtig, doch auch alle anderen der damaligen Domherren hätten Thymmo davon erzählen können.
Es war vertrackt. Nach all diesen vielen Jahren kam die Wahrheit über jenen Tag doch noch ans Licht und warf ihren langen Schatten über Vater und Sohn. Johann musste sich eingestehen, dass er tatsächlich kaum noch an diese Geschichte gedacht hatte, bis Thymmo ihn bei der Obermühle zur Rede stellte. Er war so überfordert gewesen, dass er nichts Gescheites hatte antworten können. Wie sollte er auch. Es stimmte schließlich, dass sein Verhalten damals nicht richtig gewesen war. Törichterweise hatte er gehofft, die Zeit würde seine Tat ungeschehen machen. Aber Gott vergaß nicht! Und nun wurde ihm das Annehmen jener falschen Geste des Dankes vom Scholastikus zum Verhängnis.
Immer wieder versuchte er, eine gute Erklärung zu finden, die seinem Sohn vielleicht deutlich machte, warum er sich hatte kaufen lassen. Doch immer wieder scheiterten seine Überlegungen daran, dass es nur einen einzigen aber ungangbaren Weg aus dieser misslichen Lage heraus gab: Er müsste Thymmo erzählen, dass er sein Vater war und damals nur das Beste für ihn gewollt hatte. Aber konnte man eine Lüge mit dem Beichten einer anderen Lüge tilgen? Bei der Mühle hätte er ihm fast die Wahrheit erzählt. Heute war er froh, es nicht getan zu haben. Runas Leumund wäre auf diese Weise für immer zerstört. Möglicherweise hätte Thymmo ihn dann erst recht zu hassen begonnen. Somit war er jetzt froh über das fluchtartige Verlassen seines Sohnes – auch wenn seither dieses eisige Schweigen herrschte.
Doch ungeachtet dieser Geschichte – Thymmo hatte auch noch andere Dinge gesagt. Er war so wütend gewesen, dass er plötzlich all die letzten gemeinsamen Jahre angezweifelt hatte. Zu seinem Spielball sollte Johann ihn gemacht haben! Wie kam der Junge nur darauf? Sah es für ihn tatsächlich so aus? Johann fragte sich, ob er wirklich so selbstsüchtig gehandelt hatte, wie Thymmo es ihm vorwarf. Hatte er tatsächlich nicht hinterfragt, was Thymmo wollte, und ihn so geformt, wie er es für richtig gehalten hatte?
»Herr«, holte ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Es war sein treuer Diener Werner.
»Ist es die Freude auf das heutige Weihefest für das südliche Seitenschiff des Mariendoms, welche Euch den Schlaf raubt?«
Johann hätte leicht lügen können, doch es stand ihm nicht der Sinn danach. »So sollte es sein, nicht wahr? Doch leider beschäftigen mich an diesem Tage weniger die christlichen, denn die weltlichen Angelegenheiten.«
»Herr, auch wenn es mir nicht zusteht, darf ich nach dem Grund Eurer Betrübtheit fragen? Ich stelle nämlich fest, dass Thymmo seit Tagen unter derselben Stimmung zu leiden scheint wie Ihr.«
Der Ratsnotar blickte Werner an und sagte: »Ach, mein treuer Freund. Zu gern würde ich meine Seele erleichtern und mit dir darüber sprechen, doch ich kann nicht.«
Der Diener blieb etwas ratlos zurück. Er hatte seinen Herrn noch nie so gesehen.
»Weißt du noch, wie Thymmo als kleiner Junge immer Blätter gesammelt und sie in meinen Büchern gepresst hat?«
»O ja, wie könnte ich das vergessen? Zeitweise kam ich mir eher vor wie ein Obstbauer, denn wie der Diener eines Domherrn.«
Johann lachte
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