Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
plötzlich gekommen. Sie musste zugeben, dass ihr nicht ganz wohl dabei war. Sein Verhalten bei ihrem letzten Besuch hatte sie so eingeschüchtert, dass sie vorgehabt hatte, ihn vorerst zu meiden. Doch heute war ein christlicher Feiertag, und alles, was sie wollte, war, ihm etwas zu essen vor die Tür zu legen. Ihr Herz war weich – vielleicht deshalb, weil sie wieder schwanger war. Gut, dass Christian nichts von ihrem Vorhaben ahnte, er hätte sie ungeschönt wissen lassen, dass er sie für verrückt hielt.
Mittlerweile konnte Ava die Kurie des Scholastikus’ in voller Gänze vor sich sehen. Zögerlich griff sie nach dem Käse in ihrem Korb. Hoffentlich fand er an dieser Speise nichts auszusetzen, dachte sie insgeheim, als ihr das weiße Brot in den Sinn kam, welches sie ihm am Aschermittwoch hatte schenken wollen. Sie war bereits im Begriff, den Käse auf den Stufen zurückzulassen, als sie innehielt und sich dagegen entschied. Hier würde sehr wahrscheinlich der nächste Langfinger danach greifen – das wollte Ava vermeiden. Aus diesem Grunde umschritt sie die Kurie, bis sie vor einer kleinen, oben abgerundeten Tür stand, die durch eine hohe Mauer in den Kuriengarten des Scholastikus’ führte. Besser sie hinterließ den Käse hier.
Ava schob die Tür auf. Sie vermutete, dass zu dieser Zeit des Feiertages niemand da sein würde – und insgeheim hoffte sie das auch –, denn schließlich kam sie ungebeten. Vorsichtig trat sie ein und setzte einen Fuß vor den anderen. Der Garten war groß und die vielen Obstbäume versperrten ihr die Sicht. Dennoch wagte sie sich weiter vor und folgte einem verschlungenen Pfad. Ihr Schritt wurde etwas schneller, und schließlich erblickte sie die Rückseite der Kurie. Gerade schaute sie sich nach einem geeigneten Platz für ihre Gabe um, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Ein Klirren, ein Plätschern und ein Prusten.
»Hallo? Ist jemand hier?«, fragte sie verunsichert. Einige Schritte später erblickte sie einen Mann mit freiem Oberkörper, bloß bekleidet mit seiner Bruche. Er stand am Brunnen und kippte sich fortwährend Wasser über den Kopf. Die Striemen auf seinem Rücken machten es für sie unverkennbar, um wen es sich handelte. Ava blieb stehen. Vorsichtshalber aus einiger Entfernung fragte sie: »Ehler? Hast du mich nicht gehört?«
Der Mann hielt inne.
Ava stockte der Atem.
Polternd ließ der Domherr den hölzernen Eimer fallen.
»Soll … soll ich … wieder gehen?«
Ruckartig drehte er sich um.
Ava schreckte zurück. Sein Antlitz war von Wut gezeichnet. Dunkle Ringe unter den Augen stachen hervor. Aus seinem Haar tropfte das Wasser. Sein Blick hatte etwas Bedrohliches.
»Geht es … dir gut?«, fragte Ava zögerlich, die dagegen ankämpfen musste, sich nicht vor ihrem eigenen Sohn zu fürchten.
»Warum bist du hier?«, fragte Ehler.
»Ich wollte dir einen Käse bringen.«
»Habe ich dir nicht verboten zu kommen?«
»Kann man einer Mutter die Liebe zu ihrem Kind verbieten?«
Einen Moment lang sagten beide nichts.
Dann wagte Ava ihre nächste Frage. »Ehler, was ist mit dir? Was habe ich getan? Du warst bei meinem letzten Besuch so zornig. Kannst du dich erinnern …?«
Natürlich erinnerte er sich noch an den letzten Besuch seiner Mutter – ebenso wie an die Worte Hannahs und ebenso wie an das belauschte Gespräch über die Entmachtung des Scholastikus’. Der Domherr nahm die Frau vor sich nicht mehr als Mutter wahr, er hasste sie aus tiefster Seele, und doch konnte er sich nicht gebärden wie das letzte Mal. Sie hatte keine Ahnung, was er gerade getan hatte und das musste auch so bleiben! Drum wandte er all sein Geschick an, überwand seine Abscheu für einen Moment und rang sich ein freundliches Gesicht ab. Er verlieh seiner Stimme etwas Weiches. »Nein, wie sollte man auch? Kannst du mir noch einmal verzeihen?«
Der Korb mit dem Käse glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
»Mein Verhalten war scheußlich. Ich kann es mir nur so erklären, dass kurzzeitig der Schmerz durch meine Geißelung meine Sinne vernebelt hat. Aber nun will ich mich bessern.«
Ava wollte ihren Ohren zunächst nicht trauen, doch ihr Herz hatte sich jene Worte so sehr gewünscht, dass sie nicht gewillt war, auch nur den geringsten Zweifel an seiner Ehrlichkeit zuzulassen. Dennoch fragte sie vorsichtig: »Wirst du dich auch nicht wieder geißeln, mein Sohn?«
»Aber nein, Mutter. Meine Dämonen sind ausgetrieben, und mein Herz ist rein. Alles, was ich jetzt
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