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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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welches er schon sehr lange nicht mehr getragen hatte. Es war regelrecht in Vergessenheit geraten, und er sah auch gleich warum. Der lange Riss, den er sich am Baugerüst innerhalb des Doms vor ganzen zehn Jahren zugezogen hatte, belebte seine Erinnerung. Der Erzbischof nahm den feinen Zwirn zur Hand. Wieder fühlte er, wie sehr ihn das Missgeschick damals geärgert hatte. Achtlos war das Gewand danach von ihm ganz tief in seiner Truhe verstaut worden. Jetzt nahm er sich vor, es seinem Schneider zu geben, damit er etwas anderes aus dem Stoff machen konnte. Es wäre einfach zu schade gewesen, ihn so zu belassen.
    Plötzlich fiel ihm etwas auf die Füße. Es war ein Brief. Erstaunt hob der Erzbischof ihn auf. Ebenso wie das ungeliebte, zerrissene Gewand hatte er auch jenen Ablass vollkommen vergessen. Jetzt aber kam ihm die alte Frau mit der eindringlichen Bitte um Vergebung ihrer Sünden wieder in den Sinn. Giselbert fühlte sich ein wenig schlecht. Er wusste, Gott sah alles und kannte jeden seiner Gedanken. Es war nicht gerade eines Erzbischofs würdig, Ablässe und Beichtbriefe zu vergessen, weil man kirchlichen Dingen eher gleichgültig gegenüberstand.
    Jenes schlechte Gewissen war es wohl auch, welches ihn den Brief nach so vielen Jahren wieder entfalten ließ. Seine Augen flogen über die Zeilen, welche ihm ebenso wirr erschienen wie damals. Dann erblickten sie das in großen Worten geschriebene Lever tod as Sklav! Unwillkürlich fragte er sich, ob die alte Frau wohl noch lebte, und er hoffte ernsthaft, dass sie Frieden gefunden hatte. Gewissermaßen als Ausgleich seiner Vergesslichkeit nahm er sich vor, später im Dom für sie zu beten. Dann steckte Giselbert den Ablass ein und machte sich für das Weihefest bereit.
    Runa, Walther und Margareta hatten sich ebenso herausgeputzt wie alle Hamburger, die mit ihnen zum Mariendom strömten. Vom Norden kamen die Domherren aus ihren Kurien in das Zentrum der ehemals bischöflichen Altstadt, vom Osten her die Fischer, Bauern und die Beginen aus dem Kirchspiel St. Jacobi. Aus dem Süden kamen die Männer und Frauen des jüngst bebauten Katharinen-Kirchspiels und vom Westen die Mönche aus den Klöstern St. Johannis und Marien Magdalenen sowie jene Bewohner aus der einst gräflichen Neustadt, dem heutigen Kirchspiel St. Nikolai.
    Sie alle wollten der Weihe beiwohnen, davor oder danach den großen Markt besuchen und die Arbeit mal einen Tag lang ruhen lassen.
    Laut hallte der Klang der Glocken durch die Straßen. Mit Absicht ließ man sie heute lange läuten. Immer wieder hängten sich die Männer mit ihrem ganzen Gewicht an die dicken Seile, um sie zum Schwingen zu bringen.
    Walther und die Schwestern schritten über den Berg und gingen an der Fronerei vorbei, die Runa schon lange nicht mehr ängstigen konnte. Zwar waren die Erinnerungen an ihre Zeit hier noch immer lebendig, doch war ihr seither noch so viel Schlimmeres widerfahren, dass der Schrecken ihrer Kerkerhaft daneben verblasste. Die drei kamen durch die Filterstraße, wo sie aber nach ein paar Schritten schon stehenbleiben mussten – so dicht drängten sich hier die Hamburger Bürger.
    »Ich frage mich, ob wirklich alle diese Menschen in den Dom passen?«, gab Margareta zu bedenken. »Es scheinen mir so viele wie sonst nie zu sein. Wahrscheinlich sind über die Hälfte von außerhalb der Stadt.«
    »Ja, ich habe Hamburg auch schon lange nicht mehr so voll erlebt«, erwiderte Walther.
    Runa stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die Köpfe hinwegzusehen. »Ich habe das Gefühl, es geht gar nicht weiter da vorne. Nur warum?«
    Walther, der um einiges größer war als Runa, reckte nun auch den Hals. Er sah sogleich, woran es lag. »Die Schauenburger kommen gerade an. Das Portal ist umstellt von ihren Männern, die alle aufhalten. Jetzt geht Graf Adolf V. rein und … hinter ihm … schwer zu erkennen.«
    »Siehst du Gräfin Margarete und Graf Johann II.?«, fragte Runa.
    »Nein, da sind nur die Brüder Heinrich I. und Adolf VI., die Kieler sehe ich nicht.«
    Plötzlich wurde der Druck von hinten größer, sodass Walther fast ins Straucheln geriet.
    »Platz da! Zur Seite! Aus dem Weg, da vorne«, ertönte es unfreundlich aus der Kehle eines Ritters, der, zusammen mit weiteren Reitern, die schmale Gasse entlangkam. Achtlos schoben sie die vielen Leiber zur Seite.
    Margareta, Runa und Walther drehten sich um und sahen nicht weit von sich entfernt das eben gesuchte Grafenpaar.
    »Da sind sie«, rief

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