Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wahr?«
»Unglaublich, was für ein loses Mundwerk du hast. Glaubst du etwa, durch solch ketzerische Reden kommst du ins ewige Himmelreich? Weißt du dummer Bengel denn nicht, dass die Zeit auf Erden endlich ist, die danach aber nicht?«
»Ach …«, winkte der Dieb ab. »Gott hat mich schon lange verlassen. Wahrscheinlich war er niemals bei mir. Warum sonst ist es um mich bestellt, wie es eben ist? Und bitte sagt mir jetzt nicht, Ihr würdet in meiner Situation nicht stehlen gehen. Sehr wahrscheinlich hattet Ihr auch noch niemals solchen Hunger, dass Ihr dachtet, Euer Bauchknurren müsste noch weit bis hinter die Stadtmauern zu hören sein. Dieser Hunger treibt einen in den Wahnsinn, Vater. Und er bringt Kerle wie mich zum Stehlen. Seid versichert, ich wünsche mir auch ein anderes Leben, aber Gott hat eben seine Lieblinge!«
»Das ist Blasphemie!«
»Das ist die Wahrheit!«, konterte der Dieb.
Everard und der Junge schauten sich einen Moment an. Dann fragte der Geistliche: »Du hast nicht wirklich alle meine Münzen ausgegeben, oder?«
»Doch, alle!«
»Was im Himmel hast du dir davon gekauft? Das Rathaus?«
»Nein, schön wäre es. Es mag Euch komisch vorkommen, aber selbst unter uns Dieben und Räubern gibt es eine Art Schwur. Kommt einer von uns zu einer großen Beute, wird sie geteilt. Natürlich hätte ich gern alles für mich allein behalten, doch dann säße ich wahrscheinlich jetzt nicht mehr hier.«
»Klingt ja nach wahrer Freundschaft …«, lästerte Vater Everard und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Was sollte er jetzt nur tun? Zwar saß der Dieb vor ihm, seine Münzen jedoch waren fort. Er war ratlos!
»Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, doch irgendwie habt Ihr mit Euren Münzen doch etwas Gutes getan. Zig Mäuler der Armen Kölns werden sicher die nächsten Wochen volle Backen haben. Da Ihr so viel Wert auf Nächstenliebe legt, könnt Ihr Euch doch glücklich schätzen! Und wer so viele Münzen besitzt, der hat auch noch mehr davon …«
Everard sah den jungen Kerl fassungslos an und schüttelte den Kopf. »Du bist wahrlich ein Dummkopf und hast keine Ahnung, was du sagst. Du denkst, ich habe es so einfach? Mein Leben ist leicht, ja?«
»Genau das denke ich. Euer Leben ist im Gegensatz zu meinem sorglos. Ich würde liebend gern mit Euch tauschen.«
»Was für ein Geschwätz …«, winkte Everard ab, während er sich langsam erhob. »Du bist viel zu weich und zu schwach. Keine Woche würdest du an meiner Seite aushalten, du Großmaul. Und nun gib mir wenigstens die Pilgertasche, die du dem armen Wicht vorhin geklaut hast. Das bist du mir schuldig.«
Der Mann blickte auf die Tasche und dann wieder auf Everard. Keine sonstige Regung war ihm zu entnehmen. Stattdessen sagte er nach einem kurzen Augenblick: »Dann nehmt mich doch mit, und ich beweise es Euch!«
»Pah«, sagte Everard kopfschüttelnd. »Stiehl mir nicht länger meine Zeit, und gib mir endlich die Tasche.«
»Ich meine es ernst. Nehmt mich mit auf Eure Reise, und wenn es nötig ist, werde ich solange an Eurer Seite bleiben, bis ich Euch Eure Münzen entweder durch Arbeit oder durchs Stehlen wieder zusammengetragen habe.«
Everard schüttelte erneut den Kopf und wollte gerade erwidern, dass er noch nicht einmal wusste, wie es weitergehen sollte, als der Junge ihm die Tasche reichte.
»Ich habe zwar noch nicht reingeschaut, aber meine Erfahrung sagt mir, da ist nicht viel drin. Ich erkenne das schon am Antlitz der Pilger.«
Ein flüchtiger Blick in die Tasche genügte, um bestätigt zu bekommen, was der Junge behauptete. Gleich darauf plapperte er weiter.
»Ich wüsste einen trockenen Ort, wo wir ein Feuer machen können.«
Noch immer zögerte Everard. Konnte er diesem Dieb wirklich trauen?
Der Junge schien seine Gedanken zu lesen und sagte lächelnd: »Vertraut mir, jetzt, da Ihr arm seid wie ich, habe ich keinen Grund mehr, Euch die Kehle aufzuschlitzen.«
»Na, das ist ja überaus beruhigend!«, erwiderte der Geistliche. »Gut, zeige mir diesen Ort und zwar schnell. Die Kälte kriecht mir nämlich schon in alle Glieder.«
»Heißt das, Ihr nehmt mich mit, wenn Ihr die Stadt wieder verlasst?«
»Von mir aus kannst du mitkommen, doch nur unter einer Bedingung: Du wirst mir einen Teil meiner Habe zurückgeben – egal wie! Was auch immer du stiehlst, ich bekomme davon die Hälfte.«
»Einverstanden! Ihr habt mein Wort«, versicherte er. »Ich bin übrigens Kuno.«
»Ich bin Vater Everard.«
»Sagt mir noch
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