Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
hob ab in die Luft, wohin sein zweites gleich folgte. Mit voller Wucht fiel er auf sein Hinterteil und den darüberliegenden Knochen. Er schrie auf. Dann rutschte er die menschenleere Gasse hinab.
Everard hatte den Dieb fast aus den Augen verloren, als er einen Schrei vernahm. Sein Blick fuhr herum, daraufhin bog auch er in die kleine Gasse ab. Mit einem teuflischen Lächeln rannte er den abschüssigen Weg hinab. Kurz bevor er ihn einholte, stieß er sich vom Boden ab und sprang mit nach vorne gestreckten Armen auf sein Opfer, auf dass sie sich mehrfach überschlugen. Als sie endlich zum Stehen kamen, packte Everard den Dieb am Kragen, setzte sich auf ihn, und schrie ihm atemlos ins Gesicht: »Wo ist meine Tasche, du elender Bastard einer hässlichen Hure!«
Der Junge verzog qualvoll das Gesicht, als der Geistliche sich auf ihn setzte und sein schmerzendes Hinterteil so gegen den harten Boden drückte. Anfangs versuchte er sich zu wehren, drehte und wand sich, soweit es möglich war, doch der Mann schaffte es, seine Knie so zu platzieren, dass seine Arme bewegungsunfähig wurden. »Ich habe Eure Tasche nicht mehr«, gestand er ebenso atemlos.
Das hatte Everard nicht hören wollen, außerdem glaubte er dem Dieb kein Wort. Wütend riss er sein Opfer am Kragen hoch und ließ dessen Kopf wieder auf den Boden fallen. »Sag mir sofort, wo meine Habe ist, sonst schwöre ich dir, prügel ich dich so lange, bis du wegen deiner unchristlichen Tat noch heute dem Teufel im Fegefeuer in die Augen sehen wirst.«
»Ich schwöre es«, rief dieser so glaubhaft er konnte. »Eure Münzen sind fort!«
Jetzt hatte Everard genug. Er holte aus und schlug dem Jungen zweimal ins Gesicht. Als er ein drittes Mal ausholen wollte, gelang es dem Kerl, seine Arme zu befreien. Sofort wehrte er den nächsten Schlag ab und stieß den Pilger von sich runter.
Everard fiel auf die Seite und sah den Jungen aufspringen, doch seine Reaktion war schnell. Er packte den Flüchtenden im letzten Moment am Fuß und brachte ihn wieder zu Fall. Nur einen Augenblick später hatte der Geistliche dessen rechten Arm umfasst und drehte ihn auf seinen Rücken. Er kannte keine Gnade und bog die Knochen des Diebes so weit, bis dieser aufschrie.
»Aufhören! Bitte … aufhören! Ihr brecht mir noch den Arm!«, brüllte er.
»Was sagst du? Ich kann dich nicht hören«, spottete der Kirchenmann mit einem boshaften Grinsen. »Jetzt bist du plötzlich nicht mehr so frech, was? Sag mir sofort, wo meine Münzen sind, sonst dreh ich dir deinen Arm bis zu den Ohren. Vielleicht wäre das ohnehin das Beste, dann könntest du arglose Pilger nicht mehr bestehlen!« Während er das sagte, fiel sein Blick auf die Tasche, die um den Körper des Diebes hing und die noch kurz zuvor im Besitz eines Pilgers gewesen war. In seinem Zorn bog er den Arm noch weiter nach oben.
»Ahhh … nicht, o Gott, bitte …«, schrie er nun verzweifelt. Der junge Mann wusste, dass er jetzt etwas sagen musste, was seinen wutschnaubenden Gegner dazu brachte, seinen Arm loszulassen. Er hatte absolut keine Zweifel, dass dieser tatsächlich bereit war, ihm seine Glieder zu brechen. »Ich bitte Euch, lasst mich los, und ich werde Euch ewig dankbar sein. Nur bitte lasst endlich los!«
»Ewige Dankbarkeit? Darauf pfeife ich! Ich will nur, was mir sowieso gehört!« Trotz seiner Worte ließ er den Jungen nach einem letzten wütenden Ruck los.
Stöhnend setzte sich der Dieb auf und lehnte sich an eine Häuserwand.
Beide Männer atmeten schwer. Ihre Kleider waren vom Schlamm durchnässt, und ihnen war kalt. Aus ihren Mündern stieben kleine weiße Wölkchen.
Der Langfinger fand seine Stimme als Erster wieder. »Ich danke Euch!« Während er sich die schmerzende Schulter rieb, sagte er: »Ich weiß, Ihr haltet mich für einen miesen Betrüger, aber glaubt mir, ich wünschte, ich könnte anders überleben, als durchs Stehlen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Everard noch immer zornig.
»Was soll das schon heißen? Ich bin arm geboren und werde arm sterben. Doch glücklicherweise lebe ich in einer Stadt, die von Fremden nur so wimmelt. Ich brauche nur zuzugreifen. Nach spätestens ein paar Tagen sind die Bestohlenen wieder fort – und zwar für immer. Das heißt, normalerweise!«
Everard wusste, dass der Junge ihn damit meinte.
Der Dieb lachte bitter auf. »Es ist schon grotesk, dass ausgerechnet der Dom und die Geschichten über ihn mir dabei helfen, die Pilger um ihre Habe zu erleichtern, nicht
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