Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wenigstens einen Teil seiner geklauten Münzen zurückzuerhalten. Eine so große Summe wie die, die sich in der Tasche befunden hatte, würde schließlich kein Mann in so kurzer Zeit ausgeben können.
Everards Blick glitt über die Menschenmenge. Haupt für Haupt, Gesicht für Gesicht. Das Antlitz des Diebes hatte sich so tief in sein Gedächtnis gebrannt, dass er ihn aus Tausenden heraus erkannt hätte. In seinem Kopf glich er dieses Bild mit den Gesichtern vor seinen Augen ab: zu kleine Nase, zu helles Haar, zu rund, zu schmal, keine Narbe im Gesicht …! Nichts. Der Mann, der eher ein Junge gewesen war, blieb verschwunden.
Was tat er hier eigentlich? Warum sollte der Kerl auch ausgerechnet hierher zurückkommen, jetzt, da er genug Münzen hatte, um sich bis zum nächsten Winter ein angenehmes Leben zu gönnen?
Als Everard sich gerade auf zum Hospital machen wollte, stockte ihm plötzlich der Atem. Da! Am anderen Ende des Hofs, zwischen zwei Säulen des nördlichen, überdachten Arkadengangs. Da stand er! Vertieft in eine Unterhaltung mit einem Pilger, der andächtig auf den Dom starrte, blickte der Langfinger immer wieder auf dessen Tasche. Diesmal hatte Everard keinen Zweifel!
Er dachte nicht lang nach; wog nicht seine Möglichkeiten ab, wie zuvor am Hafen, da er bloß vermutet hatte, den Dieb entdeckt zu haben, noch versuchte er sich unauffällig zu verhalten. Sein Plan war schlicht, und er lautete: Schnapp ihn dir! Wutschnaubend stürmte er los.
Erst im letzten Moment sah der Dieb Everard kommen. Statt sich aber sofort aus dem Staub zu machen, griff der dreiste Kerl zunächst nach der Pilgertasche seines Gegenübers, und rannte mitsamt seiner Beute davon. Der Bestohlene war zu überrascht, um rechtzeitig zu reagieren.
Everard nahm die Verfolgung auf. Wild schreiend, getrieben von unbändiger Wut, fühlte er sich fast, als könne er ganze Bäume ausreißen. Die drei Wochen der Tatenlosigkeit hatten seine wunden Glieder heilen lassen, und die Verzweiflung, die er mit jedem Tag mehr gespürt hatte, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Sein Blick heftete sich an den Hinterkopf des Jungen, der mit aller List versuchte, seinen Verfolger abzuschütteln.
Immer wieder bog der Kerl in enge Gassen ein. Schlug Haken und versuchte den Mann hinter sich zu überlisten, indem er schnell hintereinander die Richtung wechselte und immer verschlungenere Wege wählte. Erst nach einiger Zeit wagte er es, sich an einer Häuserecke festzuhalten, um sich erstmals umzusehen. Er war schon vollkommen außer Atem, doch der Geistliche war ihm noch immer dicht auf den Fersen und hatte einen Ausdruck im Gesicht, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Also lief er weiter, doch der nasskalte Matsch unter seinen Füßen ließ ihn immer wieder straucheln. Drei oder vier Gassen später, blieb er erneut stehen, noch immer sah er sich verfolgt. Der Dieb bekam es jetzt wahrlich mit der Angst zu tun, denn der Kirchenmann kam immer näher. Er musste seinen Plan ändern und ab jetzt kleine Gassen meiden. Stattdessen bog er in eine große Straße ein, auf der sich unzählige Menschen, Tiere, Wagen, Waren und natürlich der allseits gegenwärtige Schlamm befanden. Mit flinken Schritten schlängelte er sich durch die Hindernisse und hoffte und flehte, dass der unermüdliche Pilger ihn auf diese Weise aus den Augen verlor. Er irrte sich.
Everard schnaubte und atmete laut, doch um nichts in der Welt hätte er angehalten. Seine Beine schmerzten, und die kalte Novemberluft tat beim Einatmen weh, sein Wille jedoch war ungebrochen. Ohne Rücksicht stieß er alte Frauen und Kinder um und bahnte sich so brutal seinen Weg.
Mittlerweile war das Atmen des Jungen bloß noch ein heiseres Japsen. Schmerzhafte Stiche machten sich in seinen Seiten bemerkbar, seine rechte Wade kündigte an, ihm bald den Dienst zu versagen. Als sein Blick auf eine abschüssige Gasse zwischen zwei schiefen Häusern fiel, welche sich an den Dächern bereits berührten, dachte er nicht lang nach und bog ab. Die überfüllte Straße hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht, nun musste er wieder auf seine alte Vorgehensweise zurückgreifen. Außerdem ging es hier in das ärmliche Viertel, aus dem er kam; hier kannte er sich aus. Mit zwei beherzten Sprüngen umrundete er ein paar Weiber, die zusammenstanden und sich unterhielten, dann sprang er zwischen die Häuser. Er war nur einen Moment lang unachtsam – sein Tritt nicht fest genug –, da geschah es. Sein Bein glitt aus und
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