Das Vermächtnis des Rings
rätselhaften Worte fragen konnte, verschwand er ebenso rasch und lautlos wie beim ersten Mal.
Raskell starrte die Stelle am Waldrand, vor der er gestanden hatte, noch eine halbe Sekunde lang verblüfft an, dann fuhr er herum und blickte über den Fluss.
Aber auch die Reiter waren verschwunden, und das gegenüberliegende Flussufer lag so still und dunkel da, als wäre alles nichts als ein flüchtiger Spuk gewesen.
Raskell saß noch lange und starrte auf die Wellen hinaus. Es war nach Mitternacht, als er endlich in sein Zelt kroch und sich zu einem unruhigen, von Albträumen und Visionen unterbrochenen Schlaf niederlegte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Holm ihn am nächsten Morgen weckte. Es fiel ihm schwer, in die Wirklichkeit zurückzufinden. So, wie er am vergangenen Abend nicht in den Schlaf gefunden hatte, hatte er nun Mühe, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. War das, was er am vergangenen Abend erlebt hatte, wirklich passiert?
Er wankte zum Fluss, kniete an seinem Ufer nieder und wusch sich mit dem eisigen, klaren Wasser, während Holm hinter ihm bereits die Zelte abbaute und eine Kanne Kaffee über das Feuer setzte. Sie frühstückten schweigend – Eier, Brot und mehrere Tassen Kaffee, stark und schwarz wie Teer –, und Raskell beschloss für sich, Holm nichts von seinem sonderbaren Erlebnis zu erzählen. Es würde nichts bringen, so oder so. Holm würde ihn bestenfalls für verrückt halten, wahrscheinlicher aber wütend werden, weil er erneut mit Harbo gesprochen hatte. Außerdem brauchte er Zeit, Zeit für sich, um über alles, was er in den letzten Stunden erlebt hatte – oder zu erleben geglaubt hatte –, nachzudenken und zuerst mit sich selbst ins Reine zu kommen, ehe er mit Holm sprach. Wenn überhaupt.
Sie brachen auf, als der Morgen dämmerte. Die schwarzen Schatten beiderseits des Flusses verwandelten sich in Grau, und für einen kurzen Moment kam Nebel auf, klammer, feuchter Nebel, der aber von der aufgehenden Sonne rasch vertrieben wurde. Holm führte ihn schweigend am Flussufer entlang, blieb an einer scheinbar willkürlich gewählten Stelle stehen und deutete über den Fluss. »Hier.« Raskell blickte misstrauisch auf das langsam dahinfließende Wasser. Obwohl es klar wie Glas war, konnte man den Grund nicht sehen, aber er erkannte zumindest, dass der Fluss tief war. Sicher zu tief zum Hindurchwaten. Aber Holm schien sich seiner Sache sicher zu sein. Er zog die Riemen seines Rucksackes enger, hob sein Gewehr mit beiden Händen hoch über den Kopf und watete langsam in den Fluss hinein. Er versank rasch bis zur Hüfte, dann bis zur Brust, weiter jedoch nicht.
»Kommen Sie, Raskell«, sagte er. »Immer dicht hinter mir bleiben, dann passiert Ihnen nichts.«
Raskell folgte ihm zögernd. Das Wasser war eisig, und es gab eine starke Unterströmung, die wütend an seinen Beinen zerrte und rüttelte, sodass er Mühe hatte, nicht auszugleiten. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, sodass er sich eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte. Aber die Strömung würde ihn rasch davontragen, wenn er ausglitt. So folgte er seinem Führer mit mehr Vorsicht, als vielleicht nötig gewesen wäre, und vollzog jeden Schritt Holms behutsam nach.
Holm ging eine Zeit lang geradeaus und begann dann scheinbar willkürlich nach rechts und links, einmal in einem weiten Bogen sogar zurückzuspringen, ohne jemals tiefer als bis zur Brust in den eisigen Fluten zu versinken. Raskell fragte sich mit wachsender Verblüffung, wie Holm das Kunststück fertig brachte, sich die Lage jedes einzelnen Steines auf dem Flussgrund zu merken. Er selbst hätte wahrscheinlich schon nach den ersten Schritten die Orientierung verloren und wäre hoffnungslos versunken. Aber Holm führte ihn mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit, und nach wenig mehr als einer halben Stunde hatten sie das gegenüberliegende Ufer erreicht; erschöpft und bis auf die Haut durchnässt und frierend, aber heil und unverletzt.
Raskell ließ sich mit einem erleichterten Seufzer ins Gras sinken, aber Holm drängte sofort zum Weitergehen. Müde erhob er sich und hängte sich das Gewehr, das plötzlich Zentner zu wiegen schien, wieder über die Schulter. In seinen Stiefeln schwappte Wasser, und er begann trotz der Sonnenwärme zu frieren. Aber er gehorchte Holms Anweisungen schweigend, trotz allem.
Sie marschierten mehr als eine Stunde am Flussufer entlang. Die Sonne kletterte langsam höher und trocknete ihre Kleider.
Weitere Kostenlose Bücher