Das Vermächtnis des Rings
den Obersten Drachen zu erzürnen, fühlte Djofar eine zaghafte Hoffnung in sich aufsteigen. Sollte das Undenkbare wahr werden, würde er der geachtetste Mann in Mitheynanda sein, nein, der geachtetste Mann in ganz Runnterum. Bewunderter noch als König Gaurok.
Dann durfte er heiraten, und er würde nicht einmal auf Brautschau gehen müssen. Es gab ein Mädchen, das er schon vor Jahren, noch bevor er durch das Orakel zum Drachenpriester bestimmt worden war, zu seiner Braut auserkoren hatte.
Und Ladya war immer noch ledig.
Djofar seufzte sehnsüchtig, wandte sich vom Fenster ab und eilte zurück in die Küche. Bis zum Einbruch der Nacht musste die Arbeit erledigt sein.
Auf dem Weg zum Festplatz ihres Stadtviertels kam Ladya ganz in der Nähe des Drachentempels vorbei. Es war ein schlichtes Bauwerk aus sorgsam behauenem Basalt, so wie die meisten Gebäude Mitheynandas nicht durch Größe und Prunk imponierten. Die Schönheit der Stadt ergab sich aus der Vielzahl verschiedener Stilrichtungen, in denen sich die Herkunft der Bevölkerung aus allen Teilen der Welt widerspiegelte, und aus der liebevollen Gestaltung der einzelnen Häuser, zu der die Steinmetzkunst der Zwerge, die filigranen Holzschnitzereien der Elfen und die fantasievolle Bemalung der Trolle einen nicht unerheblichen Teil beitrug. Dazu kamen die unzähligen kleinen Gärten, die gestutzten Hecken, Büsche und Bäume in den Straßen und auf den Plätzen, sowie die vielen zierlichen Brücken, die das Labyrinth der Bäche überspannten.
Über den schroffen Berggipfeln im Westen verdämmerte das letzte Abendrot und ließ den ewigen Schnee in einem geheimnisvollen Purpur glühen. Aus den Fenstern des Drachentempels fiel weiches Licht auf die dunklen Straßen. Djofar hatte den Tempel offenbar noch nicht verlassen, um mit den anderen zu feiern.
Ladya blieb einen Moment lang vor dem großen Portal aus Kirschbaumholz stehen, das nur von zwei kunstvoll geschnitzten Drachen verziert wurde, und überlegte, ob sie Djofar einen Besuch abstatten sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen. Gerade an einem solchen Abend, an dem sich viele junge Paare verlobten und andere Hochzeit feierten, musste Djofar die Bürde des Zölibats als besonders schmerzhaft empfinden. Sie wusste, dass er immer noch in sie verliebt war. Vielleicht war er deshalb in seinem Tempel geblieben.
Bestimmt aber kam er später auf den Festplatz, denn bisher hatte er keine Frühlingsfeier versäumt, und das Zölibat verbot ihm nicht, mit ihr zu tanzen.
Nicht zum ersten Mal dachte Ladya, dass es leichter für ihn sein würde, wenn sie endlich heiratete. Sie war längst kein Mädchen mehr, sondern eine bildhübsche junge Frau, und ihre Eltern bedrängten sie ständig, sich endlich einen Mann zu nehmen. An Bewerbern herrschte kein Mangel, und die Nachbarn tuschelten bereits, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Ihre gleichaltrigen Freundinnen waren schon seit Jahren verheiratet, und alle hatten mindestens ein Kind zur Welt gebracht.
Im letzten Herbst hätte auch sie sich beinahe verlobt, auch wenn weder ihre Eltern noch ihre Freundinnen etwas davon ahnten, doch dann…
Mit einem leisen Seufzen verdrängte Ladya die Erinnerung, wandte dem Portal den Rücken zu, schulterte den geflochtenen Korb voller frisch gebackener Pasteten und machte sich auf den Weg.
Noch in diesem Frühling würde sie ihren Mann finden und heiraten, bevor der Sommer angebrochen war. Das hatte ihr das Orakel prophezeit, und Ladya wusste, dass sie dem Ruf ihres Herzens folgen würde. Sie war keine naive Träumerin, sondern eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Das Schicksal hatte sie und Djofar getrennt, und es lag nicht in ihrer Macht, den Lauf der Dinge zu ändern.
Trotzdem konnte sie nicht umhin, einen Anflug von Trauer zu verspüren, weil sie Djofar – aller Vernunft zum Trotz – mit ihrer Hochzeit wehtun würde.
Die Nacht war längst hereingebrochen, und ein mondloser Himmel wölbte sich wie eine schwarze, mit Myriaden glitzernder Diamantsplitter besetzte Samtkuppel über Mitheynanda.
Djofar beugte sich unruhig aus dem Fenster, das auf die Hauptstraße hinausging. Von überall her hörte er Gelächter und Musik wie eine sanfte Brise herüberwehen. Ein paar Nachzügler eilten unter ihm vorbei, mit Körben, Krügen und bauchigen Karaffen beladen.
Niemand bemerkte den Schatten, der auf dunklen Schwingen lautlos über der Stadt kreiste und schließlich mit dem steilen Berghang im Osten
Weitere Kostenlose Bücher