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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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oberen Raum.
    Auf dem Dachboden war es still und warm von der abgestandenen Luft des langen Tages. Es roch trocken und harzig, gleichzeitig erregend und vertraut: der Geruch von alten Büchern und Papier, von Zeit und Verfall.
    Dank der wenigen Sonnenstrahlen, die das Dach hindurchließ, sah ich einen großen, scheunenartigen Raum, der sich nahezu über das ganze Haus erstreckte: ein akkurates Gitterwerk aus Deckenbalken, die die Rippen des Hauses bildeten; eine Schuppenschicht überlappender Dachpfannen. Der Fußboden des großen Raums war ein Schlachtfeld, es standen Kisten und Kästen herum, Koffer und alte Wäschesäcke, Kleider, Taschen und Möbel. Eine wirre, wilde, chaotische Rumpelkammer. Und überall lag Papier: Haufen und Packen, halb zerfallene Blätter, umgestürzte Stapel von Ordnern und Dokumenten. Dies war nur im allerweitesten Sinne ein Archiv, oder wenn es mal eins gewesen war, dann war ein Hurrikan darüber hinweggefegt. Es war, als sei ein gespenstisches Kosakenheer durch eine Anwaltskanzlei galoppiert.
    Jetzt zog ich mich entschlossen und ohne große Anstrengung durch die Öffnung auf den Speicher und stand schließlich aufrecht unter dem großen Dach.
    Saul deutete auf einen Wassertank aus Zink, der mitten im Raum stand.
    »Dahinter haben wir uns versteckt«, sagte er, »als sie von
Deir Yassin gekommen sind und geschossen haben. Du weißt schon,’29.«
    »Warum denn da?«
    »Irgendwer hatte Mutter erzählt, Kugeln würden nicht durch Wasser gehen.«
    Er ging ein paar Schritte weiter, bückte sich, suchte, keuchte, während er sich durch das Durcheinander wühlte, und ächzte sanft von der Anstrengung und der Hitze. Er dünstete einen Geruch nach Schweiß und Ungesundheit aus, der sich merklich verstärkte, je mehr er sich anstrengte. Ich hatte den Eindruck, Saul sei Teil dieses Staubs, auch er könne sich auflösen und zerfallen.
    »Hier habe ich ihn gefunden«, verkündete er. Er steckte die Hand in eine Kiste, das Gesicht angespannt und spitz wie das eines wachsamen Vogels.
    Leichtfüßig und behutsam durchmaß ich das Chaos. Die Dielen waren stabil, quietschten aber. Ich ging in die Hocke und drehte einen Stapel verzierter Broschüren mit schwarzer und hellroter Schrift um. Gesellschaft zur Förderung der hebräischen Sprache , las ich. Regeln und Grundlagen . Das brüchige Papier zerbröselte mir in der Hand.
    Dies war das Geheimnis, das das Haus mir verschwiegen hatte. Hier lag der Schatz, der mich zurückgerufen hatte. Aber es war ein armseliger Schatz. Es war nur Geschichte, roh und ungeschminkt: Protokolle des Komitees für die Erhaltung Jerusalems; Monatsabrechnungen des Fonds für erkrankte Lehrer; alte Ausgaben der Zeitung, die mein Großvater vor dem Ersten Weltkrieg auf einer Linotype gesetzt hatte. Korrespondenz in dreifacher Ausfertigung, ausgeblichene Hauptbücher und Listen über die Weizenzuteilungen für die Armen der Stadt.
    Die Sachen hatten jahrzehntelang dort gelegen, ein langsam wachsender Berg: zunächst vielleicht nur ein kleiner
Hügel, aber am Ende ein Everest, Jahr für Jahr durch neues Material gewachsen. Jahrzehntelang missachtet und vergessen, erst der bevorstehende Abriss hatte seine Sichtung erzwungen. Kein Wunder, dass der Kodex so lange unentdeckt hier gelegen hatte. Langsam ließ ich den Blick wandern. Ein schwerer Staubvorhang verschleierte die hintersten Winkel des Dachbodens, wo ich unter den untersten Sparren nur schwach die Umrisse von ordentlich aufgestapelten Kisten ausmachen konnte, deren Inhalt noch unberührt war.
    Wie ließen sich die hier begrabene Geschichte, die hier mit Sicherheit begrabenen Geschichten zusammensetzen, die im Bodensatz von Packkisten, abgeheftet in rostigen Aktenordnern, vergeblich auf ihre Entdeckung warteten? Wie trivial dieser zerfledderte Kram wirkte. War von der Vergangenheit wirklich nichts übrig als diese vertrockneten Knochen, diese nackten Skelette von Fakten; diese abgegriffenen, fragwürdigen Erbstücke? Ein Widderhorn, ein Schnipsel einer Torah-Rolle, ein Zugfahrplan von Jaffa. Ein altes Englischheft in Schönschrift: A noun is a word used for naming some person or thing , die Seiten zerfielen beim Umblättern. Und doch konnte ich ebenso wenig wie Saul aufhören, es sog mich ein wie ein Strudel, dem ich nicht widerstehen konnte. Der Name in dem Buch war der meines Vaters,
    Amnon
Amnon Shepher
Amnon
immer wieder, verschnörkelt, kindlich und ungelenk: sein erstes Englischbuch. Ich konnte den Ruf dieses Namens

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