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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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richtig ist.
    Merkwürdig, dachte ich, wie ein Buch schläft und dann plötzlich aus dem Schlummer der Belanglosigkeit wieder zum Leben erweckt wird. Genauso wie die geschichtlichen Zeugnisse, die ich in den beiden vergangenen Tagen eins nach dem anderen aus dem Archiv auf dem Boden heruntergeholt hatte: verlorene Briefe, alte Schreibhefte, das Kriegstagebuch
meines Großvaters; die gesamte Familiengeschichte, die plötzlich lebte und mich vereinnahmte, nach Jahren der Ignoranz und Gleichgültigkeit.
    Fania kam mit einem Stapel Bettwäsche herein. Wir klappten das Sofa aus. Als sie die Laken ausbreitete, kam sie mir deutlich jünger vor.
    Zwar ging sie auf die siebzig zu, trug das Haar aber noch rot, zupfte sich die Augenbrauen, und einmal in der Woche kam die Maniküre. Sie trug ihre besten Schuhe, wenn sie zu Supersol ging. Als eingefleischte Wienerin hatte sie es hier nicht leicht; sie war ein Lindenbaum, der in den mageren Boden der Wüste verpflanzt worden war und sich vormachte, er wurzele immer noch in der Herrengasse.
    »Du siehst aus wie deine Mutter«, sagte sie. »Als deine Mutter das erste Mal herkam, sah sie aus wie ein Filmstar in diesem weißen Kleid.«
    »Später hat sie dann zugenommen.«
    »Später, später. Später nimmt jeder zu.«
    Mit diesem neuen Wissen zog ich mich für die Nacht um und putzte mir die Zähne in dem kleinen, feuchten Badezimmer mit dem üblichen Medizinschränkchen mit einem roten Davidsstern darauf. Es roch nach Schimmel und Waschpulver, war weiß gefliest und hatte eine Badewanne mit Haltegriffen. An einem kleinen Balkon mit Fliegentüren hing Wäsche. Ich schaute hinunter. Es wäre ein tiefer Fall für eine Strumpfhose.
    Ich bürstete mir das Haar und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Es hieß, ich ähnelte meiner Mutter, aber ich sah das nicht. Oder vielleicht wollte ich es nicht sehen, weil ich, wenn es schon sein musste, lieber nach meinem Vater kam.
    Ich hatte seine Farbe und seine Augen. Ich war nicht dunkel. Mein Haar war golden wie seins, meine Augen blau. Ich hatte trockene, blasse Lippen, die im Winter aufsprangen.

    Meine Kinnpartie war ihre. Das musste ich zugeben. Ich mochte mein Kinn nicht, es war zu schwer.
    Ich wollte nicht glauben, dass ich einem von beiden ähnelte. Meiner Meinung nach sah ich englisch aus.
    Onkel Cobby hatte gesagt: »Natürlich siehst du englisch aus. Du hast dein ganzes Leben in England gelebt. Wenn du hier geboren wärst«, sagte Onkel Cobby nachdrücklich, »würdest du aussehen wie wir.«
    Ich starrte mich selbst im Spiegel an und fragte mich, wie es sein konnte, dass ich durch den bloßen Zufall, irgendwo anders aufgewachsen zu sein, anders aussehen sollte. Ich wollte Cobby fragen: Woran liegt es denn? Ist es das Wetter? Die Milch? Der Militärdienst?
    Ich verschränkte die Arme und beugte mich über die Stadt. In der Ferne funkelten Lichter, weiß und blau und gelb. Aus der Wohnung gegenüber drang Musik. Irgendwo hörte ich eine Sirene heulen. Die Luft roch nach Straßenstaub und Benzin und noch etwas Vertrautem und Undefinierbarem: dem Atem der Wüste.
    Die Vergangenheit stieg auf wie etwas Greifbares. Ich empfand es als zutiefst seltsam, hier zu sein.

Sechstes Kapitel
     
    Mein Urgroßvater war Korrektor von Schriftrollen und später ein großer Fanatiker. Mein Großvater war Zionist. Was für ein Zionist? »Ein wahrer Zionist«, seinem Nachruf zufolge. Ich bin mir nicht sicher, was das genau bedeutet. Der Autor des Nachrufs erklärt es nicht. Aber lassen wir diese Definitionsfrage beiseite und stellen einfach fest, dass mein Großvater Zionist war.
    Er war ein bescheidener Mann. Vielleicht zu bescheiden,
denn jetzt ist er nahezu in Vergessenheit geraten, außer bei einigen wenigen Gelehrten, die sich durch die Archive im Ben-Or-Institut wühlen, und bei den Besuchern der kleinen Synagoge in Jerusalem, die noch immer seinen Namen trägt. Er war ein leidenschaftlicher Grammatiker und hinterließ bei seinem Tod ein gut achthundert Seiten langes Manuskript mit linguistischen Analysen sowie tausende weiterer Papiere und Briefe. Bislang hat sich niemand die Mühe gemacht, sie zu sichten. Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er drei Bücher mit hebräischer Grammatik zum Gebrauch in Schulen. Als er starb, arbeitete er an einer detaillierten Untersuchung des hebräischen Verbs »sein«.
    Meine Großmutter war eine Frau von felsenfesten Überzeugungen, politisch eher rechts, und in Diskussionen furchterregend. Sie hatten sieben

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