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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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Kinder, von denen keines Erfüllung fand im Leben. Vier heirateten und bekamen Kinder. Eins ging nach Amerika und kehrte nie zurück, aber das ist für einen Juden nicht weiter bemerkenswert. Ein anderes ging nach England und heiratete dort und bekam Kinder und kehrte nie zurück, obwohl er es Jahr um Jahr beabsichtigte. Er verschob es und verschob es aber, bis es zu spät war und er im Exil und heimatlos starb und erst nach Hause zurückgebracht wurde, um dort begraben zu werden.
    Mein Großvater war ein gemäßigter und sanftmütiger Mann. Er war ein Anhänger von Rav Kook, der etwas sehr Schönes gesagt hat: Er sagte, der Tempel sei aus grundlosem Hass zerstört worden und könne nur auf einem Fundament aus grundloser Liebe wieder aufgebaut werden.
    Als Junge schlief er mit einem Bild von Theodor Herzl und einem Zeitungsausschnitt über den ersten Zionistenkongress in Basel unter dem Kopfkissen. Einmal erhaschte er einen Blick auf den Vordenker mit seinem Vollbart und dem visionären Gesichtsausdruck, als dieser vor
seiner Unterkunft in der Mamillah-Straße für ein Foto posierte.
    Viel später las er, Herzl habe bei diesem Besuch darauf geachtet, nicht auf einem Esel durch die Stadttore zu reiten, damit die begeisterten Einwohner ihn nicht für den Messias hielten. In diesem Moment begriff er, dass der Mann, der Der Judenstaat geschrieben hatte und dabei von nächtlichen Tannhäuser -Aufführungen inspiriert worden war, auch seine Schwachstelle hatte: Hochmut.
    Er war ein kränkliches Kind, das stets mit Allergien und Komplikationen zu kämpfen hatte: Seine Nase lief ständig, seine Augen waren entzündet, immer brach gerade irgendetwas aus oder klang ab. Drei Jahre lang litt er an chronischem Hautjucken. In seinen Mundwinkeln blühten immer Fieberbläschen.
    Zu seinen frühesten Erinnerungen gehörte es, unter dem Tisch zu sitzen, an den seine Mutter ihn mit einem Stück Bindfaden am Fußknöchel gebunden hatte, und von seinem Vater hochgehoben zu werden, auf dem Dach des Hauses in der Chabad-Straße, damit er die mitternächtlichen Lichter des Ramadan im muslimischen Viertel funkeln sehen konnte.
    Als er fünf Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm eine mit Honig bestrichene Seite der heiligen Schrift, legte ihm einen Gebetsmantel um und brachte ihn zum Rebben, damit er die ersten Buchstaben lerne. Sieben Jahre lang saß er zu Füßen des Rebben, der den Jungen mit einem langen Stock auf die Finger schlug, wenn ihr Blick beim Sprechen der Liturgie abschweifte, und als mein Großvater vierzehn Jahre alt war, konnte er bereits einen großen Teil der Heiligen Schrift auswendig.
    Er war ein aufmerksamer Schüler und ein stiller Junge. In einem Haushalt mit sechs zankenden Schwestern und
zwei Schwagern war er derjenige, der das Kriegsbeil begrub, der heiligengleiche Schiedsrichter bei häuslichen Disputen. Seine Rolle als Diplomat brachte ihm aber nichts als Kummer.
    Hier liegt vermutlich der Grund für seine lebenslange, tiefsitzende Melancholie und für die tiefe Sorgenfurche, links von seiner rechten Augenbraue, die schon auf seinem ersten Foto so auffällt. Es ist eine Studie der Angespanntheit, ein generisches Bild: der erste echte Beweis dafür, dass es in der Familie liegt.
    Als mein Großvater siebzehn Jahre alt war, machte ihn der Heiratsvermittler mit der langhalsigen Tochter eines Synagogendieners aus Odessa bekannt. Aber als die jüngere Schwester der Frau ihm einen Teller mit Gebäck reichte, traf ihr Blick den seinen über dem Zimtkuchen, und die beiden verliebten sich sofort. Da der Synagogendiener nur das Geld für die Hochzeit der älteren Tochter hatte (Synagogendiener sind bekanntermaßen arm), tat meine Urgroßmutter, was sie schon lange vorgehabt hatte: Sie ging an ihren Notgroschen, den sie in einem alten Shabbat-Kopftuch versteckt hatte, und zählte das Geld für den Hochzeitsbaldachin ihres Sohnes ab.
    Von Stund an weigerte sich Reb Shalom, mit seiner Frau zu sprechen.
    Da er von Anfang an kein sonderlich gesprächiger Ehemann gewesen war, machte es für Batsheva keinen großen Unterschied. Sie hatte sich längst an ihren stummen Mann gewöhnt. Dass der Synagogendiener, Batsheva, die Familie des Synagogendieners und schließlich Shalom Shepher selbst glücklich über diese Verbindung waren, hinderte ihn nicht daran, sich weiterhin abzusondern. Bald wusste man nicht mehr, warum er das überhaupt tat. Wie bei so vielen Dingen war es eine Frage des Prinzips. Seine Weigerung, mit
ihr zu sprechen,

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