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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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wie du ihn magst«, sagte Fania.
    Schwer zu glauben, dachte ich, dass er Sauls Bruder war, obwohl es jetzt Ähnlichkeiten gab, die mit dem Alter stärker zutage traten. Im Großen und Ganzen waren sie jedoch so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie hatten komplett gegensätzliche Leben gelebt seit dem Tag, als Cobby in die Sozialistische Jugendpartei eingetreten war und Saul in die nationalistische Miliz, und seit diesem Tag bis zum heutigen hatten sie kaum miteinander gesprochen; der Legende zufolge hatte Cobby Saul allerdings einmal geschlagen, in einem politischen Streit, draußen auf der Veranda in Kiriat Shoshan.
    Viele hielten ihn für das dümmste Mitglied der Familie, aber falls das so war, war er auch das glücklichste. Er legte Zwistigkeiten lieber durch Armdrücken bei als durch politische Diskussionen. Er fühlte sich immer geschmeichelt, wenn man ihn nach seiner wissenschaftlichen Arbeit fragte, und sprach ausführlich und mit langen Pausen darüber, mit vielen Abschweifungen und unverständlicher Wortwahl, gespickt mit den Wirrnissen seines Altersstotterns. Je aufmerksamer man zuhörte, desto weniger verstand man das Ganze. Er würde nie müde werden, seine abgedroschenen Ansichten zu wiederholen, die er für radikal hielt; vor allem deswegen, weil Tante Fania ebenfalls nicht müde wurde, die ihren zu wiederholen, die konservativ waren. Er sang gerne, war aber unmusikalisch, und er las nur wissenschaftliche Zeitschriften,
weil er Romane für ordinär hielt. Zwanzig Jahre zuvor hatte er einen psychologischen Ratgeber eines amerikanischen Quacksalbers gelesen, und zwanzig Jahre später zerpflückte er dessen Argumentation immer noch. Er fuhr einen alten Peugeot mit klebrigen Plastiksitzen, allerdings nie schneller als dreißig Meilen die Stunde, und hatte große Schwierigkeiten mit Straßenkarten. Sie stellten die Strecken nie so dar, wie er sie mit Sicherheit zu kennen glaubte.
    »Und noch was.« Er schmatzte abschätzig. »Er meint auch, der Text wäre korrumpiert.«
    »Korrumpiert!« Wann immer ich dieses Wort hörte, stellte ich mir vor, dass der Bibeltext von Adern subversiven Schimmels in allen Regenbogenfarben durchzogen ist, die die weißen Seiten der göttlichen Wahrheit befleckten. Es war ein beliebtes Wort unter Akademikern. »Kein Wunder«, merkte ich vorsichtig an, »dass sich so viele Leute dafür interessieren.«
    Es stimmte: Seit ich angekommen war, hatte das Telefon kaum stillgestanden. Es gab jede Menge Intrigen und Auseinandersetzungen, und meine eigene Bitte, den Kodex sehen zu dürfen, war bislang ungehört geblieben. Die Streitkräfte-Hydra der Familie erwachte: Entfernte, vergessene Verwandte erinnerten sich ihrer Zugehörigkeit zu der alten Sippe, die verfeindeten Splittergruppen sammelten sich, und ihrer aller Königin Sara Malkah höchstselbst drohte mit ihrem Erscheinen im Krisengebiet.
    An diesem Nachmittag begleitete ich Tante Fania zu Supersol und stand neben ihr, als sie einen lebenden Karpfen aus einem Aquarium aussuchte. Sie kippelte auf ihren Stöckelschuhen herum, und ihre Augenbrauen waren rostbraun nachgezogen. Sie hakte sich bei mir unter, während wir durch die Gänge schlenderten, viel sahen, wenig kauften, und ich stellte fest, dass sie nahezu täglich hierherkam,
weniger zum Einkaufen als vielmehr aus Gewohnheit. An ihren Arm gefesselt, roch ich ihr französisches Parfüm: L’Air du Temps.
    »Es wird mächtig Ärger geben«, sagte sie. »Weißt du, warum? Ich kenne diese Familie. Glaubst du, nach siebzig Jahren kenne ich diese Familie nicht? Dann denk noch mal drüber nach.«
    Ich fügte mich ihrem umfangreicheren Wissen und ließ sie Kekse aussuchen. Es lag ein fremdartiger Geruch nach Zimt und Vanille in der Luft. Der Supersol war ruhig, fast verlassen an diesem Nachmittag. »Es ist der saure Magen. Dein Onkel frisst sich selbst von innen auf. Und«, beharrte sie, »du hast wirklich keinen Freund?«
    »Keinen Freund«, bestätigte ich.
    »Das ist aber schade. Du solltest wirklich einen haben. Eine Frau in deinem Alter braucht ein richtiges Zuhause.«
    »Ich habe ein richtiges Zuhause.«
    »Natürlich. Aber ich meine Kinder.« Sie drückte ihre kirschroten Fingernägel in einen Laib Brot. »Äh! Das ist ja schon hart.«
    »Nicht jeder möchte Kinder haben.«
    »Unsinn! Du hast nur noch nicht den Richtigen gefunden. Du musst dich ein bisschen beeilen.«
    Ich beherrschte mich und überlegte kurz, ob sie vielleicht Recht hatte. Hier zu sein, erinnerte mich umso

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