Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
drei Generationen, den Kodex wiederzubekommen, aber wir waren nie sicher, wo er ist. Bis jetzt. Jetzt soll ich ihn in Sicherheit bringen. Ihn seinen rechtmäßigen Eigentümern zurückbringen. Und mir gehen sowohl die Zeit als auch die Möglichkeiten aus. Deswegen hatte ich auf Ihre Hilfe gehofft.« Er schaute mich an. »Alles in Ordnung?«
»Nur ein kleines Verdauungsproblem.«
»Hm. Verstehen Sie«, fuhr er schließlich fort, »ich frage mich wirklich, welches Schicksal mich hierher gebracht hat. Wohingegen Sie sich natürlich nicht nur damit auseinandersetzen müssen, warum Sie in Jerusalem sind, sondern auch noch damit, dass Sie zufällig überhaupt auf der Welt sind.«
»Ja, also, ich …«
»Kein Gespür für den Sinn. Das tut mir wirklich leid.«
Ich setzte mich abrupt auf. »Es gibt überhaupt nichts, was Ihnen leidtun müsste. Ich beschäftige mich durchaus mit dem Sinn des Lebens. Die Auseinandersetzung ist das Entscheidende. Ich setze mich lieber mit der Bedeutungslosigkeit
meines Daseins auseinander, als alle Antworten auf dem Präsentierteller vorgesetzt zu bekommen.«
Gideon lächelte immer noch.
»Sie werden ja ganz nass«, sagte er.
»Das macht nichts.«
»Doch, es macht was.« Er behielt die Zigarette im Mund und zog mit einer flinken Bewegung seinen Kaftan aus. Darunter trug er ein weißes, hochgeschlossenes Hemd und flatternde Schaufäden. »Hier. Lassen Sie mich Ihnen den umlegen.«
Ich war instinktiv zurückgewichen, aber es schien mir unhöflich, ihn zurückzuweisen, als er mir in einer nahezu versöhnlichen Geste seinen Mantel hinhielt. Zögernd ließ ich ihn mir um die Schultern legen. Es war, wie in eine weit zurückliegende Vergangenheit eingehüllt zu werden. Der Mantel war warm und schwer. Er roch nach Moschus. Er roch nach dem Körper eines fremden Mannes.
»Na also. Das ist doch besser.« Er betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf. »Wissen Sie was, er steht Ihnen.«
»Gideon«, sagte ich mit klappernden Zähnen. »Warum sind Sie denn nun in Jerusalem?«
Er wirkte überrascht. »Um den Kodex zu holen. Ich dachte, das wüssten Sie.«
»Nein«, antwortete ich. »Das wusste ich nicht. Ich dachte, Sie wollen ihn nur sehen.«
Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Nein«, sagte er. »Ich bin hier, um ihn zurückzuholen.«
»Aha«, sagte ich. »Verstehe.« Ich saß eine Weile schweigend in dem fremdartigen Mantel da. Der Regen war stärker geworden. Ich zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte.
Siebtes Kapitel
Tel Aviv, 8. Juni 1937
Meine Lieben!
Gerade habe ich euren Brief erhalten, und ich schäme mich aufrichtig. Es ist wirklich zu lange her, dass ich euch geschrieben habe. Da ich nicht als Erster geschrieben habe, will ich wenigstens sofort antworten. Ihr fragt nach meiner Lage. Ich habe wirklich wenig Neues zu berichten. Neuigkeiten müssten wahrscheinlich aus irgendetwas bestehen. Und da meine Neuigkeiten aus nichts bestehen, fällt es mir schwer, sie in Worte zu fassen. Abgesehen von essen, trinken und schlafen tue ich nichts, was berichtenswert wäre. Immerhin kann ich erzählen, dass ich bester Gesundheit bin, und »der Tag ist kurz, die Arbeit groß, und die Arbeiter sind träge« - der Lohn allerdings ist nicht hoch, hier müssen wir den Spruch der Weisen abwandeln. Du hattest Recht, Vater, als du mich lehrtest »finde einen Lehrer« - wenn es doch nur so einfach wäre, wie Schüler zu finden. Ich bin ins Joch aller Dummköpfe Europas gespannt, aber ich tröste mich damit, dass ich nicht für sechs Jahre Sklaverei an sie verkauft wurde. Und außerdem: Der eine geht, der andere kommt, das ist auch ein Trost.
Natürlich habe ich nicht vor, Tel Aviv zu verlassen. Sollten sich Möglichkeiten auftun, so werde ich am ehesten hier darüber stolpern, wenn ihr bitte nicht zu viel in das »Stolpern« hineinlesen wollt. Aber ich fürchte, ich habe noch nicht sehr gründlich über meine Zukunftspläne nachgedacht. Ich warte auf bessere und günstigere Umstände.
In eurem Brief finde ich kein Wort über die Lage zu Hause, und ich bitte darum, in eurem nächsten Brief, selbst wenn er ärgerlich werden sollte (unbegründet, natürlich), den Platz für ein paar Worte darüber zu finden.
Bitte sagt Miriam, dass ich ihr bald schreibe.
Euer
Amnon
Tel Aviv, 15. August 1937
Meine Lieben!
Es tut mir sehr leid, dass ich euch mit meinem letzten Brief Sorgen gemacht habe. Hätte ich geahnt, dass er eine solche Wirkung haben würde, dann hätte ich ihn gar
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