Das Vermächtnis des Templers
durfte zum ersten Mal mit ihnen speisen. Er saß schweigend inmitten der Brüder auf einer Bank, Holzteller und Becher vor sich, und hörte, wie einer der Mönche laut aus der Heiligen Schrift vorlas.
Die Novizenzeit brachte für den Jungen weitreichende Veränderungen. Bislang war er im Kloster vornehmlich mit handwerklichen Dingen beschäftigt gewesen. Von nun an sah er die Konversen nur noch selten. Sein Schlafplatz befand sich im Novizenhaus. Er musste an allen Stundengebeten teilnehmen, die rund um den Tag und die Nacht verteilt waren. An Feiertagen konnten diese Gottesdienste ausgeweitet werden. Immerhin blieb tagsüber Zeit für das Studium der Bücher. Nahm man die Ordensregel streng, war dies während der Novizenzeit nicht erlaubt. Der Neue sollte sich voll und ganz auf den Tagesablauf der Herrenmönche einlassen. Jordanus hatte jedoch beim Abt bewirken können, dass der Junge seine Studien fortsetzen durfte.
Zunächst war es für Johannes nicht einfach, die Bedeutung der Horen nachzuvollziehen. Erst nach und nach lernte er die Texte auswendig, verstand den Ablauf von Antiphon und Responsorium, verinnerlichte die rituellen Gebärden. Oft schien es ihm, als sei allein dafür eine Novizenzeit von zwölf Monaten zu gering bemessen.
In seltenen Fällen wurde der feste Ablauf der Horen variiert. So geschah es, als einer der Mönche gestorben war. Zunächst waren seine sterblichen Überreste in einer Nische des Kreuzgangs aufgebahrt worden. Tags drauf fand ein Trauergottesdienst zu Ehren des Bruders statt. Dazu wurde der Sarg in den Chor der Klosterkirche getragen. Das feierliche Totenamt endete in der nördlich des Chors gelegenen Seitenkapelle mit der Prozession durch die dortige Todespforte zum Klosterfriedhof. Hier fand der Gestorbene eine vorläufige Ruhestätte, bis seine Gebeine Jahre später exhumiert würden, um im Kreuzgang begraben zu werden. Johannes lernte, dass die Zisterzienser wohl ein einfaches Holzkreuz setzten, es aber nicht mit einem Namen versahen. Ihre Gräber trugen keine Aufschriften, denn der Name des Mönches würde bei Gott im Buch des Lebens stehen.
Als Novizenmeister machte Jordanus den Jungen mit den Statuten und Grundgedanken der Zisterzienser bekannt. Im Gegensatz zu den Konversen hatten die Herrenmönche vor allem die Aufgabe zu beten. Ziel des Mönchs sollte die unmittelbare Schau des Göttlichen sein. So hatte der heilige Bernhard Buße, Gotteslob und Kontemplation zu den Tugenden des Zisterziensers erklärt. Der Mönch sollte ohne sinnliche Zeichen, ohne die Mittel der Kunst dem Ideal des Deificari, der Vergöttlichung, folgen. Deshalb verzichteten die Zisterzienser auf alle Bildhaftigkeit. In einem Gespräch im Scriptorium wies Johannes seinen Novizenmeister auf die Beobachtung hin, dass in den Büchern, die er las und bereits zu kopieren begann, durchaus Abbildungen zu finden seien. Jordanus hatte gelächelt und nichts weiter dazu gesagt. Aber grundsätzlich fanden sich tatsächlich nur wenige Abbildungen in und außerhalb des Klostergebäudes. Die Kirche selbst, die Johannes nun kennenlernte, wenn er sich mit den Brüdern zum Stundengebet traf, war von imposanter Größe und Gestalt, aber zugleich nahezu schmucklos. Auch außen reduzierte sich das Gebäude auf reine Sachlichkeit. So gab es keinen Glockenturm, sondern lediglich einen Dachreiter.
Gegen Ende der Novizenzeit hatte Johannes seine Sprachkenntnisse vervollkommnet. Er konnte flüssig lesen, und seine Schrift war kunstvoll. Getreu der zisterziensischen Ordnung hatte Jordanus in dieser Zeit mit dem Jungen wenig über den Inhalt all der Bücher gesprochen, obwohl Johannes häufig versuchte, seinen Rat zu erhalten.
Eines Tages suchte Jordanus den Jungen im Scriptorium auf und unterbrach ihn bei seiner Arbeit. Johannes war über ein Pergament gebeugt, das er zuvor beschrieben hatte. Nun blickte er auf. Jordanus setzte sich zu ihm.
«Du weißt, dass deine Novizenzeit zu Ende geht.» Der Junge nickte.
«In dieser Nacht wirst du das Ritual der Profess erleben, das
dich zum Bruder unseres Ordens macht.»
«Wird es so sein wie damals, als ich Novize wurde?», wollte
der Junge wissen.
«Es wird ähnlich sein. Es ist ein sehr ernstes, würdiges, feierliches Ritual.»
Jordanus zögerte einen Moment.
«Aber der Orden hat Besonderes mit dir vor.»
Der Junge blickte auf.
«Damals haben dich zwei Männer in unser Kloster gebracht.
Sie gehören einem Orden an, der mit dem der Zisterzienser
befreundet ist, denn auch ihre
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