Das Vermächtnis des Templers
Gemeinschaft hat der Lehre
und dem Wirken des heiligen Bernhard viel zu verdanken. Die
beiden Männer hatten damals bemerkt, dass du offenbar Tugenden besitzt, die in ihrem Orden hoch geschätzt werden. So
gaben sie dich zu uns, um dich auszubilden und zu sehen, was
aus dir wird, was du aus den Möglichkeiten machst, die das
Kloster dir bietet. Seit gestern sind sie wieder bei uns zu Gast.
Sie haben lange mit dem Abt und mir gesprochen. Wir alle sind
überzeugt, dass du befähigt und reif bist, einen Weg zu gehen,
der dich aus dem Kloster hinausführt in die Welt.» Der Junge blickte zu Boden, schwieg einen Moment. «Was erwartet mich in der Welt? Was ist meine Bestimmung?» «Du wirst durch die bekannte und unbekannte Welt reisen.
Du wirst lernen, das Schwert zu führen, Entbehrungen auf
dich zu nehmen. Du wirst Schriften lesen können, die sonst
selten jemand in Händen hält.»
Wieder schwieg Johannes. Und auch Jordanus sagte nichts,
betrachtete diesen Jungen, der ihm so ans Herz gewachsen
war.
«Was würdet Ihr an meiner Stelle tun?», fragte Johannes
schließlich.
«Diese Entscheidung liegt ganz bei dir», entgegnete der Novizenmeister. «Ich selbst habe diese Möglichkeit nicht gehabt.
Du bist nun reif genug für die Profess, und ich bin sicher, du
wirst auch darüber hinaus die richtige Entscheidung treffen.» Er dachte einen Moment nach.
«Es wird im Anschluss an die Profess eine weitere Einweihung geben. Dann musst du dich entscheiden.»
Jordanus erhob sich. Es war Zeit, den Jungen allein zu lassen.
Kurz bevor er die Tür erreichte, wandte er sich noch einmal um. «Ist dir aufgefallen, dass sich im Kreuzgang über dem Platz
des Abtes eine Abbildung befindet? Ein Adler, der sein Junges
in den Krallen hält, um es loszulassen. Während der Lesungen
muss er dir aufgefallen sein. Jetzt bist du der junge Adler. Jetzt
musst du entscheiden, wohin du fliegst.»
Jordanus wandte sich langsam zur Tür. Einen Augenblick
später saß der Junge allein im Scriptorium. Es war völlig still
im Raum.
Am Ende der Nacht versammelten sich die Mönche im Chor der Klosterkirche zur Laudes. Nach den Eingangspsalmen ließen sie einen Wechselgesang erklingen.
Johannes schaute hinauf zu den hoch aufragenden Kirchenfenstern im Süden und Norden des Mittelschiffs, die den Blick freigaben auf unendliche, bedrohlich über der Welt schwebende Finsternis. Der Abt sprach in ruhigen Worten zu den Brüdern: «Ein neuer Tag wird kommen. Er führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Der Sonnenaufgang naht. Ein neues Leben wird uns geschenkt. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Es ist ein Geschenk. Ein Neuanfang, der all unsere Offenheit verdient, unsere kindliche Dankbarkeit. Es ist eine heitere Stunde, eine Zeit, sich zu erheben, zu leuchten. Gott sagt uns: Lass dich von mir nicht trennen. Das Leben ist ein Geschenk, eine Gelegenheit, die uns gegeben ist. Jeder Augenblick ist uns gegeben. So lasst uns zur Laudes den Gesang der Dankbarkeit und der Freude erheben.»
Als die Brüder das Kyrie und das Vaterunser intonierten, dämmerte das erste zaghafte Tageslicht durch die Fenster des Chores.
Zum Abschluss erteilte der Abt den Segen. Die Mönche verließen die Klosterkirche und begaben sich in den Kapitelsaal. Dort wurde dem Jungen aufgetragen, sich auf den Boden zu legen. Zwei der Brüder bedeckten ihn mit einem schwarzen Tuch.
In diesem Augenblick begann die Totenglocke zu läuten. «Das Leben endet, und das Leben beginnt neu», sagte der
Abt feierlich. «Keuschheit, Armut und Gehorsam werden deinen Weg bestimmen. Es wird der Weg zu unserem Herrn sein.
Erhebe dich!»
Johannes stand langsam auf, unsicher, zögernd. Das schwarze Tuch fiel von ihm ab. Eine unerklärliche Trauer überkam
ihn. Er hätte seinen Tränen freien Lauf lassen können, doch
er tat es nicht, weil das Gefühl der Unsicherheit in ihm größer
war als die Schwermut.
Zwei Mönche in schwarzer Kutte betraten den Saal. Ihre Gesichter waren verdeckt. Sie nahmen den Jungen rechts und links
bei der Hand und führten ihn in den Kreuzgang. Gemeinsam
gingen sie zur Treppe, die in das Obergeschoss zum Dormitorium führte. Doch zur Verwunderung des Jungen öffneten sie
eine Tür neben der Treppe und betraten mit ihm einen Raum,
den Johannes noch nie bemerkt hatte. Dieser Raum war gerade
so groß, dass ein Tisch und ein Stuhl hineinpassten. «Setze dich an den Tisch», sagte einer der schwarzen Mönche,
«und schreibe deine letzten Gedanken auf. Denn du
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